Leitartikel: Chinas Platz in der Welt

Frankfurter Rundschau, 1. Oktober 1974
"China ist keine Nation mehr, die sich beleidigen läßt; China ist aufgestanden." Diese lapidaren Sätze Mao Tse-tungs, auf den Tag genau vor 25 Jahren gesprochen, haben ein neues Kapitel der Weltgeschichte eingeleitet.

China braucht sich heute nicht mehr tätlich beleidigen zu lassen. Es hat die militärischen Mittel, sich zur Wehr zu setzen. Daraus leitet es in diesen Tagen neues Selbstbewußtsein ab. Nicht einmal die bis vor Monaten verbreitete Angst vor einem sowjetischen Überfall, vor der Regierungschef Tschou En-lai im August 1973 auf dem Zehnten Parteitag gewarnt hat, findet sich noch in den offiziellen Dokumenten zum Jahrestag der Volksrepublik. Sie ist dem ruhigen Selbstbewußtsein gewichen, daß auch die Sowjetunion China nicht vernichten, seine Revolution nlcht mehr umkehren kann.

Zur Jahreswende schon hatten die drei zentralen Zeitungen in ihrem gemeinsamen Leitartikel in gewissem Sinne Entwarnung gegeben. Sie schätzten die fortdauernden Spannungen mit der Sowjetunion als "Scheinmanöver" ein, das "der Sozialimperialismus im Osten vollführte, um im Westen angreifen zu können", doch auch dazu lange seine Kraft nicht hin; und vom krisen-geschüttelten Amerika, der seit längerem als weniger gefährlich beurteilten anderen Supermacht, fielen ebenso wie von der UdSSR Verbündete ab. Die dritte Welt aber schließe sich zusammen. China rechnet sich zu ihr: "Wir haben Freunde überall auf der Welt."

So scheint, die Zerbrechlichkeit dieses Weltzustandes konzediert, eine Art weitrevolutionärer Idylle zu bestehen. Doch fallen harte Schlagschatten darauf. Chinas Außenpolitik wird von vielen seiner Freunde nicht mehr ganz verstanden. Allianzpolitik gegen die Sowjetunion, die man aus dem Sicherheitsbedürfnis der chinesischen Regierung noch verstehen könne, dürfe nun doch nicht in puren Antisowjetismus umschlagen, wird argumentiert Wenigstens vor dem Perserschah müsse sie haltmachen. Die DDR faktisch preiszugeben, der Bundesrepublik den Floh der Wiedervereinigung ins Ohr zu setzen, die europäische Einigung eifriger als die Europäer zu vertreten und, gar noch ungefragt für die Truppenpräsenz der USA in Westeuropa zu plädieren - das habe mit proletarischer, sozialistischer Außenpolitik nichts mehr zu tun. Es sind nicht nur Illusionäre, Moralisten oder verkleidete Kommunisten nicht-chinesischer Couleur, die so argumentieren.

Was die Kritiker China vorwerfen, sind nicht weniger als Supermacht Allüren im 25. Jahr nach der Revolution, nur zwei oder drei Jahre nach der feierlichen Versicherung des Gegenteils. Nun wäre die Probe aufs Supermacht-Exempel allerdings noch abzuwarten; abgesehen davon, daß China als respektierte Führungsmacht der dritten (und vielleicht auch der vierten) Welt eine Supermacht eigener Art zu werden gezwungen ist, deutet nichts darauf hin, daß sie den beiden anderen ähnlicher wurde. Es fehlt der Expansionsdrang über die bestehenden Grenzen hinaus. Peking hat weder irgendwelche Breschnew-Doktrinen noch CIA-Subversionen jemals Raum gegeben. Daß es die Maoisten draußen nicht unterstützt - im Fell Sri Lanka etwa -, macht man ihm gerade zum Vorwurf.

Supermacht oder nicht - China hat eine Reihe von außenpolitischen Optionen. Was vor 25 Jahren abgemachte Sache schien, daß China sich nämlich in den Sowjetblock einreihen und gar nicht anders als etwa Bulgarien oder die DDR handeln werde, ist zur unwahrscheinlichsten aller Varianten geworden. Selbst wenn Annäherung und Entspannung denkbar bleiben. China selbst hat den Graben gezogen, als es das sozialistische Lager einseitig für tot erklärte.

Damit ist der Raum seiner außenpolitischen Entscheidungen definiert. Zwischen den beiden extremen Möglichkeiten, sich als entschlossen revolutionäre Avantgarde mit allen Mächtigen bis zu deren Sturz anzulegen oder aber sich wie jeder andere größere Staat zu verhalten und Koexistenz so friedlich wie möglich durchzuhalten, schwankt sein Kurs. Als noch Tschen Bo-da und Lin Piao das Ruder drehten, vor drei bis acht Jahren etwa, war die revolutionäre Richtung ("Eroberung der Welt-Stadt durch das Welt-Dorf") auf dem Kompaß angeschlagen. Der "Große Steuermann" Mao selbst und sein Erster Offizier Tschou En-lai brachten das Schiff auf den Kurs der Staatsräson zurück.

China hat sich vorerst für die Fahrt im Konvoi der dritten Welt entschieden. Die Stürme der Weltpolitik mögen die Supermächte zausen; China, Risiken abhold, sucht seinen Frieden mit den klassischen Mitteln der Diplomatie zu sichern, bleibt wach, aber läßt sich eher vom innenpolitischen Aufbau als von außenpolitischer Vision lenken.

Im Grunde entscheidet doch die innere Entwicklung. Auch da hat es Erschütterungen gegeben, die härteste durch den Bruch, den die UdSSR 1959. und 1960 provoziert hat. Danach war das Land zur "seif reliance", zur Besinnung auf die eigenen Möglichkeiten, gezwungen. Es hat sich gegen den Ökonomismus der Liu-Schao-tschi-Fraktionen behaupten müssen und gegen den überschwappenden Vorwärtsdrang der Roten Garden. Ruhe hat es nicht gehabt.

Um so erstaunlicher sind die Leistungen. Als Staat wieder geeint, hat China das kräftigste, auch stetigste Wirtschaftswachstum aller Entwicklungsländer erreicht, den Zuwachs der Bevölkerung - Hauptthema der Gegenwart - aber auf ein Prozent im Jahr gesenkt, das seit Jahrhunderten grassierende Massenelend ebenso aus dem Land getrieben wie den traditionellen Luxus der Herrschenden. Es hat ein annähernd ausreichendes Maß an sozialer Gerechtigkeit - freilich nicht absolute Gleichheit, die erst eines fernen Tages möglich sei - verwirklicht. Krankheit und Unwissenheit sind besiegt. Wachstumsfehler, die allen anderen vom Polarkreis bis zum Rio de la Plata unterlaufen sind, hat China vermieden. Es spricht freilich auch unisono, es denkt im großen Kollektiv oder soll es doch. Das ist der Preis, von Mao mit dem Satz umschrieben: "Die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der ideologischen und politischen Linie entscheidet alles."

Die reichen Europäer und Amerikaner, die neureichen Sowjetbürger gar mögen den Preis nicht zahlen. Von den Ländern südlich vom Wendekreis des Wohlstandes aus gesehen, ist er aber gar nicht so hoch. Das macht China zum Vorbild für eine wachsende Zahl von Politikern im Süden. Es mag sein, daß am Ende dieses Jahrtausends jenes politische Ergebnis am meisten zählt.