Er schrieb ein wesentliches Kapitel der Zeitgeschichte

Tschou En-lai hat als intelligenter Pragmatiker aus Maos Theorien politische Realitäten gemacht

Frankfurter Rundschau, 10. Januar 1976
Die Reihen der großen Revolutionäre lichten sich. Größer werden die Lücken in der Generation, die die Unabhängigkeit der dritten Welt erkämpft hat und ein bedeutendes Kapitel der Zeitgeschichte schrieb. Es sind nur noch wenige da, die diese historische Epoche in Fleisch und Blut verkörpern. Tschou En-lal hat zu ihnen gezählt.

Tschous Beitrag zu diesem Kapitel ist auf dieser Seite des Bambusvorhangs zu wenig zur Kenntnis genommen worden. Der Satz mag erstaunen, da sein Name doch immer wieder aufgetaucht ist, da man ihn doch als Kosmopoliten gekannt hat; gewiß ist auch viel über ihn spekuliert worden; doch gerade das war kurzatmig und hat am Ende den Mann, für den sich zu interessieren die Spekuherenden vorgaben, zum Schemen schrumpfen lassen. Einer, der immer Nummer zwei ist, muß doch danach drängen, Nummer eins werden zu wollen; also müssen Verschiedenheiten der Einschätzung dieses oder jenes Vorgangs doch als Machtkampf verstanden werden - auf diesen Nenner läßt sich die Masse der Kommentare über Tschou En-lai bringen. Ob die Kommentare in der westlichen Presse oder auch in der Osteuropas gestanden haben, spielt fast keine Rolle mehr; da man über China nichts weiß, läßt sich um so leichter über unterstellte Motive spekulieren.

Den Akteur Tschou En-lal hat das amerikanisch-europäische Nachrichtenwesen überhaupt erst zu erkennen vermocht, als er schon geschlagene neun Jahre der Regierung der Volksrepublik China vorstand: auf der 1954er Genfer Konferenz. Da nahm dann ein namhaftes Blatt staunend hin, daß selbst der gerissene, jeder taktischen List fähige Wjatscheslaw Molotow "neben Tschou En-lai wie ein provinzadvokat" wirkte. Eine britische Zeitung nannte ihn, ungläubig beinahe, einen "Gentleman-Kommunisten". Das Klischee blieb die nächsten zwanzig Jahre erhalten. Ganz falsch war es nicht, sofern es auf die ungewöhnlichen diplomatischen Fähigkeiten des mittelgroßen, auf knappes Hinsehen zerbrechlich und vielleicht sogar unscheinbar wirkenden Chinesen geprägt war.

Als Tschou En-lai 1898 geboren wurde, gehörte seine Familie durchaus noch zum kaiserlich-chinesischen Establishment, zu jener Würdenträger-Klasse, die das Recht auf Bildung monopolisiert hatte und dem Jungen die Atmosphäre klassischen Gelehrtentums vermittelte. Doch als Schüler schon, spätestens im Alter von 13 Jahren, nahm Tschou En-lai revolutionäre Ideen in sich auf. Er besuchte in jenem Jahr - es war 1911, als Sun Yatsens bürgerliche Revolution das Kaiserhaus stürzte - die westlich-demokratisch geprägte Nankai-Schule in Tientsin. Sechs Jahre darauf begann er in Japan zu studieren.

In China hatte der Jubel über den revolutionären Sieg von 1911 einer gewaltigen Ernüchterung Platz gemacht, reaktionäre Kriegsherren bestimmten zumal im Norden, von Peking aus, die Tagespolitik. Die wahre Revolution, die der Gleichheit, die durch das Volk und für das Volk, wurde an japanischen Universitäten vorausgedacht, und die Gedanken wurden rasch marxistisch.

Im Jahre 1919, zuerst in Peking, dann im ganzen Land, zeigte sich das. Am 4. Mai demonstrierte Pekings junge Intelligenz gegen ein japanisches Friedensdiktat, Tage später standen Chinas Universitätsstädte in revolutionären Flammen. In Tientsin wurde Tschou En-lai als Rädelsführer verhaftet.

Freigelassen, folgte er dem Beispiel vieler aus seinem Jahrgang. Er verdingte sich als Werkstudent in Europa, förderte Kohle in den Schächten an der Ruhr und studierte dann in Paris, Göttingen und Berlin, gründete eine Auslandssektion der KP Chinas (im Heimatland entstand die Partei später, 1921 unter Mitwirkung des Bibliothekars Mao Tse-tung), kehrte 1924 nach China zurück und stürzte sich in den Beruf, der ihn bis zu seiner letzten Stunde nicht mehr losließ: den des revolutionären Politikers.

Die bürgerliche Nationalpartei (Kuomintang) hatte damals eine Koalition mit der noch kleinen, aber dynamischen KP Chinas gebildet, zuerst im Süden, in Kanton. Dort wurde Tschou Parteisekretär, arbeitete - da die UdSSR selbstverständlich als Mutterland der Revolution galt - mit sowjetischen Militärberatern zusammen, die damals gerade für Sun Yat-sen und seinen Nachfolger Tschiang Kai-schek eine Militärakademie aufbauten, und wurde dort politischer Direktor.

Das war die Whampoa-Akademie, ein Knotenpunkt der Geschichte Ostasiens. Ein junger Vietnamese, Nguyen Ai Quoc, trat da auf; später wurde er unter dem Namen Ho Tschi Minh bekannter. Lin Piao war einer der ersten Absolventen - der in militärischen Fachfragen beste überhaupt. Aber Tschiaag Kaischek bereitete auch mit Whampoa-Kursanten seinen Putsch vor, der ihm die Macht bringen sollte und doch nur Chinas revolutionären Bürgerkrieg einleitete. der - durch eine kurze Kriegs-KoalitIon von KP und Kuomintang acht Jahre unterbrochen - nach 22 Jahren mit dem endgültigen Sieg der Kommunisten und Tschiangs Flucht nach Taiwan endete.

Die Kriegskoalition hat Tschou En-lai geschmiedet; da lagen sein Aufstieg ins Zcntralkomitee (1928), sein Übergang von der Rechts-Opposition ins Lager Maos (1932), der Lange Marsch (1934 bis 1936) und neun Jahre revolutionärer Kämpfe dazwischen. Im Dezember 1936 wollte Tschiang der KP, die im Norden Chinas ihr Zentrum aufgebaut hatte, in den "Befreiten Gebieten von Schensi", den Todesstoß versetzen. Seine eigenen Generale aber setzten ihn fest. Unter Hinterlassung seiner Brille und seines Gebisses retirierte Tschiang in einen Tempel.

Tschou En-lal rettete seinem Erzfeind, der auf Tschous Kopf eine 100000-Dollar-Prämie ausgesetzt hatte, das Leben. Er kam per Flugzeug aus Yänan, dem KP-Hauptquartier, herüber, handelte eine antijapanische Einheitsfront aus, und als Tschiang Kaischek den Ort des Vorfalls, die Millionenstadt Sian, verließ, war er um den Preis der Einheitsfront mit seinen Gegenspielern, den Revolutionären, wiederum Chef der Kuomintang und gar von der KP als Herrscher anerkannt. Die Einheitsfront hat den Krieg gegen Japan - den Tokio 1931 begonnen hatte - nicht überdauert; Tschiangs Regime hielt sich danach noch knapp vier Jahre.

Seit Oktober 1949 war Tschou En-lal Ministerpräsident - bis zu seinem Tode. Zuerst noch der Allianz mit der UdSSR verpflichtet, führte er das Land durch die schwerste Krise seiner nach-revolutionären Geschichte (Moskau zog 1960 Knall und Fall seine Entwicklungshelfer ab, ließ Investitionsruinen stehen und erzwang Kreditrückzahlungen; China mußte lernen, aus eigener Kraft voranzukommen). Die Bewältigung der Kulturrevolution, der Aufbau der Wirtschaft, dann die Öffnung Chinas zur Weltpolitik - das sind die Leistungen des geschicktesten Diplomaten unserer Zeit in Asien, wenn nicht darüber hinaus. Jede für sich sichert ihm einen Platz in der Geschichte.

Mit wachem Bewußtsein, die Weltpolitik und die seines 800 Millionen Einwohner zählenden Landes zugleich bis ins Detail verfolgend, das im Sinne der ununterbrochenen Revolution praktisch Mögliche erspürend und dabei selten irrend, prägte er die Tagespolitik der Pekinger Zentrale; dort aber wird Tagespolitik mit dem Blick auf Jahrhundertelange Entwicklung und der Kenntnis von viertausend Jahren Geschichte gemacht, Tagespolitik mit langem Atem.

Mit genauem Wissen hat er, dessen Name mit diesem Vierteljahrhundert asiatischer Politik untrennbar verknüpft bleibt, seine Besucher überrascht. Seine deutschen Gäste Gerhard Schröder und Walter Scheel verblüffte er mit Detailkenninissen über europäische Kabinettspolitik. Seine Gesten zeigten auch, wie er die Entwicklung zu beeinflussen gedachte. Ein Gruppenfoto vor einer Bundes-Luftwaffenmaschine; ein Satz, er kenne Königsberg und nicht Kaliningrad (1930 war er dort); eine Bemerkung über die weite Perspektive der Großmacht Europa gegen die Supermächte USA und UdSSR. Das waren Signale.

Tschou En-lal ist bis zu seinem Tode fest überzeugt geblieben, von der Sowjetunion drohe die Gefahr für Chinas revolutionäre Identität, und nur ein gutes zwischenstaatliches Verhältnis zu den Amerikanern könne Kriegsgefahr abwenden. Um beide Supermächte zu steuern, müßten indes die kleineren Staaten ihre eigenen Interessen besser als bisher wahrnehmen. Und Sozialismus werde nicht möglich, solange zumal die Staaten der dritten Welt Objekt der Geschichte bleiben - auch Objekt sowjetischen Handelns.

In diesem Bezugssystem hat Tschou En-lal agiert. Gewiß, der Theoretiker hieß Mao Tse-tung; aber damit Theorie in politische Praxis umschlägt, bedarf es der hochintelligenten Akteure, von denen Tschou En-lai der bedeutendste war. Mao Tse-tung mag keinen Nachfolger finden, aber er wird durch seine Theorie weiterwirken; Tschou En-lai, der die ersten 25 Jahre der Volksrepublik China in alltäglicher Praxis geprägt hat, ist auf andere Weise nicht zu ersetzen.