Die historische Ausnahme aus Schaoschan

Mao Tse-tung gehört zu den Großen dieses Jahrhunderts / Objekt der Sehnsucht einer Generation

Frankfurter Rundschau, 10. September 1976
Mao Tse-tung gehört jetzt nur noch der Geschichte an. Die Politik seines Landes geht nun ohne ihn weiter. Seine politischen und philosophischen Gedanken mögen eine gewisse Zeit noch über-dauern, allenfalls einige Generationen lang. Auch sie werden eines Tages versinken. Mao Tse-tung selbst hat einem der wenigen Amerikaner, denen er vertraute, dies einmal gesagt. Er selbst, ja sogar Marx, Engels und Lenin müßten von späteren Generationen als klein und vielleicht lächerlich beschränkt angesehen werden; die Geschichte gehe über alle hinweg. So Mao zu Edgar Snow, jenem Eckermann auf Zeit, dem er vor 40 Jahren die ersten Kapitel seiner Lebensgeschichte erzählte.

Die Gedanken Mao Tse-tungs, seine Erkenntnisse, die von ihnen veranlaßten Handlungen mögen vergessen werden. Die Wirkung auf die Geschichte seines Landes, seines Erdteils und seiner Zeit aber reicht weit. Er gehört zu den Großen dieses Jahrhunderts, und was er tat, hat eine bestirrimte Epoche bezeichnet, Kilometersteine am Pfad der Geschichte.

Historische Vergleiche

Häufiger haben Chinesen ihn zuletzt mit dem halb mythisch verklärten ersten Kaiser der Tjin-Dynastie, 221 vor der Zeitwende, verglichen; das zeugt von richtigem Augenmaß. Jener Kaiser Schi Huang De beendete das chinesische Feudalzeitalter, eine der wenigen historischen Persönlichkeiten, der man nachsagen kann, sie habe Geschichte gemacht durch aktives Handeln. Schi Huang De beendete gewaltsam den chinesischen Feudalismus, er zwang die Lehensstaaten, die unter verschiedenen Militärherrschern bestanden, in die Richtung eines einheitlichen politischen Willens; das "alte Denken" löschte er nach Kräften aus, ließ sämtliche Bücher verbrennen, die falsche Ideen enthielten, und das waren schlechthin alle, die nicht Medizin oder Astronomie oder Landwirtschaft zum Gegenstand hatten.

Aber Schi Huang De wurde vor 2179 Jahren durch einen Bauernaufstand gestürzt, Mao Tse-tung hingegen kam durch einen Bauernaufstand von langer Dauer vor 27 Jahren an die Macht. Das ist ein qualitativer Unterschied. Der große Chinese, der jetzt starb, war in seiner Person Verkörperung der chinesischen politischen Dialektik: Inbegriff der agrarrevolutionären Antithese zur alten Gesellschaft, Symbolfigur für "die Basis"; zugleich Ausdenker der Ideen, die den neuen Staat und den neuen Menschen - das ist nicht wenig - formen sollten, und Ausübender der praktischen Macht, die Politik in dem erdachten Sinn durchzusetzen vermochte, "der Überbau" in Person.

Rebellion gegen sich selbst

So gelang ihm dies: Der Bauernschaft, vier Fünftel der Bevölkerung Chinas, brachte er ihre Elendslage zum Bewußtsein. Er vernichtete, gestützt auf die Ärmeren unter den Bauern, die alte Herrschaftsstruktur. Die staatliche Einigung Chinas erstmals in diesem Jahrhundert ist sein Werk.

Doch als auf den Grundsteinen der neuen Ordnung das entstand, was dem Ziel Mao Tse-tungs entgegengesetzt war, eine neue Klassengesellschaft, da rebellierte Mao Tse-tung gegen seine eigene Revolution. Da verstand er auch, daß der einmalige Umsturz noch nicht den neuen Menschen schafft, daß das Bewußtsein der Menschen sich nicht mechanisch verändert, zeitversetzt, aber unmittelbar den Veränderungen des gesellschaftlichen Seins folgend; da postulierte Mao dann, daß "das Machen der Rebellion gerechtfertigt" sei.

So wurde Mao Tse-tung zur historischen Ausnahmeerscheinung. Wenn denn Größe an der Wirkung auf Geschichte und Bewußtsein der Menschen zu messen ist, so gebührt dies Prädikat dem Mann des neuen China wie kaum einem Zeitgenossen dieses Jahrhunderts. Er ist am zweiten Weihnachtstag 1893 in dem Dorf Schaoschan in Hunan geboren. Sohn eines Bauern, der es zu gewissem Wohlstand gebracht hatte und seinem Sproß das zukommen lassen konnte, was als Entreebillet zur Kultur und zu den Ansätzen eines bescheidenen Reichtums in normalen Zeiten ausgereicht hätte: Er schickte den jungen Mao Tse-tung zur Schule, die er absolvierte; mit gut zwanzig Jahren hatte er die Qualifikation des Volksschullehrers, und das hätte die Vorausdefinition einer Karriere bedeuten können.

Nur waren die Zeiten eben nicht normal. China war wohl ein nominell unabhängiger Staat mit einem Kaiser (oder in jenen Jahren: des Kaisers Witwe) an der Spitze. Die Regionen des Reiches, das damals 450 oder 500 Millionen Untertanen zählte, waren jedoch unter die Großmächte aufgeteilt; was in internationalen Abmachungen als "Interessensphären" deklariert wurde, war in Wirklichkeit ein System des praktischen Wirtschaftskolonialismus unter der Flagge der nationalen Souveränität. In den Hafenstädten hatten die Europäer sich ,Konzessionen" erobert, Gebiete, in denen europäisches Recht galt und China wirklich Kolonie war. Außenpolitik konnte der Hof in Peking faktisch nicht machen, ohne sich bei den "Langnasen", den Europäern, die Erlaubnis zu holen, und wenn aus nichtigen Anlässen oder nach konkreten Aufständen Strafexpeditionen ausgesandt wurden, dann hatte China dafür zu zahlen.

Das Reich, das als einziges auf der Erde eine viertausendjährige kontinuierliche Kulturtradition aufweisen kann, war erniedrigt wie nie zuvor. Es lehnte sich dagegen auf, aber war doch der neuen Erniedrigung gewiß. Erst der japanische Sieg über Rußland 1905 und der Erste Weltkrieg zeigten ihm, daß der Westen mit seinen eigenen Waffen zu schlagen war: Chinas Intellektuelle begannen, die alten Werte in Frage zu stellen, und leiteten die erste Kulturrevolution ein. Da war für einen intelligenten Volksschullehrer, der auch die wirtschaftliche Misere seiner Landsleute kannte, kein Platz im Dienst der Monarchie: Mao folgte, fünfundzwanzigjährig, dem Zug der Zeit, als er sich an der Studentenrevolution vom 4. Mai 1919 begeisterte. Bis dahin war er eher nationalistisch orientiert mit einem gewissen Hang zur sozialen Gerechtigkeit. Aus der Studentenbewegung, der Reaktion auf Japans Kolonialismus und der allgemeinen Zerstörung Chinas auch noch acht Jahre nach dem Ende der Mandschu-Dynastie, entwickelte sich die Kommunistische Partei; eine sozialistische Bewegung hatte es in China vordem nicht gegeben, und auch nachher kam sie nicht auf. Der Ort, an dem ein revolutionärer Intellektueller - noch dazu aus der klassischen Rebellenprovinz Hunan - sich politisch ansiedeln konnte, war also vorgezeichnet.

Von 1919 an war er stets dabei; schon zwei Jahre nach der Parteigründung wurde er eine Art Beamter im Landwirtschaftsministerium (die KP hatte sich mit der bürgerlichen Kuomintang zusammengetan, weil das auf der Linie der Kommunistischen Internationale lag). Aber doch auch schon eigensinnig gegenüber der eigenen Partei, untersuchte Mao entgegen der Moskauer Gebrauchsanweisung die Lage der Bauern, um hier den Ansatz der Volkserhebung zu finden. Und als er 1926 - kurz nach einem einschlägigen Werk Ho Tschi Minhs - seinen Untersuchungsbericht über das revolutionäre Potential auf dem Lande vorlegte, hatte er bereits den Wegweiser aufgestellt, der Chinas eigene Straße der Revolution kennzeichnet.

So lobt denn die amtliche Geschichtsschreibung der osteuropäischen Kommunisten die KP Chinas nur aus der Distanz: Solange Mao nicht die Partei führte, vor 1935 also, war sie "internationalistisch", also gut und kominternloyal; hinterher aber "sektiererisch". Die größte Sekte der Welt hat 25 Millionen Mitglieder und herrscht über 800 Millionen Menschen; die UdSSR ist klein dagegen. Aber sie mußte sich wehren: Eigene Wege ohne Stalins Segen konnten dessen eigene Position im innerparteilichen Machtgerangel nur schwächen, und Stalins Erben haben Machtpositionen gegen Kommunisten zu verteidigen, die eigenen Erkenntnissen und folglich eigenen Wegen eher zugetan sind als Kommandos aus der Zentrale einer Supermacht.

Die europäische Entwicklung des Kommunismus hat zu Widersprüchen geführt, die 1953 in Ost-Berlin, 1956 in Warschau und Budapest, 1968 in Prag, 1970 in Danzig und Stettin zum Aufstand führten. Widersprüche ähnlicher Art existieren auch in China fort; nur sie wegzuideologisieren ist Mao nie eingefallen. In eigenartiger Konsequenz hat er - so 1966 - die eigene Revolution von gestern zugunsten der Gleichheit von morgen, die reale Macht zugunsten der konkreten Utopie hingegeben; wie kein anderer KP-Führer seiner Generation stimmt er mit seinen theoretischen Erkenntnissen überein und hat er die eigene Theorie davor gerettet, Ideologie und nichts anderes zu sein. "Über den Widerspruch" von 1937 und "Die richtige Lösung von Widersprüchen im Volk" 1957 - das sind Schriften, die das Handeln von 1966 und den Satz "Rebellion machen ist gerechtfertigt" vorwegnahmen. Am Ende freilich haben die Kräfte der neuen Klasse sich als stark erwiesen. Der Aufstand vom 7. April 1976 mitten in Peking zeigt nämlich auch, daß Maos Theorie nicht alle ergriffen hat, die zu den Massen zählen; materielle Gewalt ist sie geworden, aber mit Einschränkungen.

Dieses alles hat dazu beigetragen, daß Mao am Ende zum Heros hochstilisiert wurde, der förmlich angebetet wurde, der auch Objekt der Sehnsüchte eines Volkes - und Idol einer weit entfernten Generation wurde. Mit jener Generation und denen, die anbetend seinen Namen in Straßen der kapitalistischen Hauptstädte skandierten, darf aber der historische Mao nicht gemessen werden. Diese haben wohl das Klappern der Gebetsmühle, vielleicht auch das Klappern, das zum revolutionären Handwerk gehört. Das Handwerk selbst aber, die kritische Dimension der Erkenntnis, den Geist, der sich in bewußtes Handeln umsetzt - dies haben sie nicht.

Mao gehört jetzt der Geschichte an. Es ist nicht vorauszusagen, wie sie ihn vereinnahmen wird. Nur das ist sicher: In der kleinen Schrift der Fußnoten wird der Name nicht verschwinden. Mit welcher Bewertung auch immer: Er bezeichnet ein hochbedeutendes Kapitel, das von China handelt und von der Revolution in Asien.


Nachfolgekrise

Der Tod Mao Tse-tungs kann auslösender Faktor für umfassende Linien- und Richtungskämpfe in der KP Chinas werden. Nachfolgekrisen, die nach dem Ausscheiden überragender Personen ausbrechen, haben dies an sich. Auch unter der übermächtigen Autorität des Vorsitzenden Mao sind Widersprüche in der Partei, im Staat und in der Gesellschaft herangereift, die nun offen aufbrechen werden.

Das Spiel mit Namen, die mögliche Nachfolger bezeichnen, ist dabei müßig. Einen Nachfolger als richtungweisender Theoretiker, als unbeugsamer Revolutionär, als politischer Visionär und zugleich als praktischer Führer wird Mao ohnehin nicht haben.

Die Richtungen, in denen sich die inneren Widersprüche der Gesellschaft entfalten dürften, sind indes lange bekannt. Die Pragmatiker, die bis zum "konterrevolutionären Zwischenfall auf dem Tiänanmen-Platz" im April dieses Jahres vorherrschten, streben vor allem eine rasche wirtschaftliche Entwicklung an, bei der Spezialisten höhere Entscheidungsbefugnisse als "Delegierte der Massen" haben.

Die "Linke" lehnt diese Konzeption scharf ab und zieht seit einem Jahr mit ätzender Kritik gegen sie zu Felde. Sie befürchtet die Herausbildung einer neuen herrschenden Klasse, die "Rückkehr zum Kapitalismus" und im gleichen Denkansatz die "Einführung sowjetrevisionistischer Verhältnisse". Aber sie ist in sich nicht geschlossen. Eine seit der Kulturrevolution entstandene Richtung hat Mao Tse-tungs Vision vom neuen Menschen übernommen und versucht ihn durch staatlichen Zwang von der Zentrale her zu schaffen. Zu dieser Gruppe gehört Maos Witwe Djiang Tjing, der nicht riur die "Pragmatiker" Diktaturbestrebungen vorwerfen. Sie betreibt nach Ansicht ihrer Kritiker bloße Machtpolitik und strebe die "Tyrannei der Kaiserinwitwe" an.

Ein anderer Teil der "Linken" vertritt vor allem Maos "Massenlinie", das heißt die unmittelbare Beteiligung der Arbeiter und Bauern an allen Entscheidungen. Als ihr Sprecher wird der 5changhaier ehemalige Textilarbeiter Wang Hung-wen angesehen, der - nach Regierungschef Hua Guo-feng - auf dem zweiten Platz der parteihierarchle rangiert.

Die "Pragmatiker" sind in der Pekinger Zentrale, im innersten Führungszirkel der Partei, faktisch entmachtet. Im Zentralkomitee hingegen sind sie noch stark vertreten, und in vielen Provinzen geben sie den Ton an. Die Djiang-Tjing-Gruppe beherrscht die Massenmedien und hat zuletzt als einzige Zugang zu Mao gehabt, woraus sie eigene Machtansprüche entwickelt hat. Die Einflußmöglichkeiten der übrigen Linken sind vom Ausland her nicht abzuschätzen.

Unklar bleibt vorerst, wie die zwischen den Fronten lavierenden "Gemäßigten" und vor allem wie die obersten Ränge der Armee sich entscheiden werden. In der Kulturrevolution waren beide lange Zeit den öffentlichen Weisungen Maos gefolgt. Es ist nicht auszuschließen, daß sie nun regional und vielleicht auch im nationalen Rahmen als eigene Machtfaktoren auftreten werden.