Leitartikel: Eiserne Zähne

Frankfurter Rundschau, 14. Januar 1991
So oder so - dies ist das Ende Michail Gorbatschow, seiner Perestroika, seiner nationalen und internationalen Geschäftsfähigkeit. Die Bluttaten von Wilna und Kaunas haben ihn als Politiker vernichtet. Auf die Person kann man verzichten, selbst wenn sie vor kurzem noch Friedensnobelpreisträger war. Sie haben aber auch die Hoffnungen auf eine friedliche Weiterentwicklung der Sowjetunion zu einem freien Bund freier Völker zerschlagen.

Das ist nicht nur bedauerlich, nicht nur Grund zu bitterem Schmerz. Es ist eine Gefahr für den Weltfrieden, als dessen Mit-Garant Gorbatschow kürzlich noch gelten musste. Das Urteil mag ungerecht klingen in seiner Schärfe. Der Reihe nach einige Gründe. Entweder hat Gorbatschow selbst angerichtet, was in Litauen geschieht. Dann hat er den angesehenen Föderationsrat der UdSSR am Samstag belogen, dass sich die alten Balken des Kreml hätten biegen müssen. Wenn diese Annahme zutrifft, hat er Glaubwürdigkeit endgültig eingebüßt. International könnte man unter dieser Voraussetzung keins seiner Worte mehr ernst nehmen, es sei denn, es gäbe überwältigende Zwangsmittel, ihre Einlösung zu erzwingen. Oder aber er war nicht mehr Herr seiner Entschlüsse; der Diktator trüge ein anderes Gesicht. Damit hätte Gorbatschow seine Handlungsfähigkeit verloren.

Das wäre auch dann traurig wahr, wenn er unter vorgehaltener Kalaschnikow oder mit sonst einem Erpressungsgerät von irgendeinem Gromow oder einem Kommisskopf dieser Geistesart gezwungen worden wäre, zu tun, was er vielleicht doch nicht wollte. Seine Personalpolitik spricht nicht für eine solche Annahme. Die Abgänge (Jakowlew, Bakatin, Schewardnadse), die Beförderungen (Pugo, Gromow) belegen eine konstante Entwicklung zur Koalition mit dem militär-industriellen Komplex. Die Hilflosigkeit im Umgang mit den einzelnen Republiken mag durchaus anderes gewesen sein als Hilflosigkeit, vielmehr: Augenwischerei, Hinhalten, Hinterhältigkeit. Immerhin, bewiesen ist das nicht, aber der Verdacht liegt nahe angesichts früherer Vorkommnisse.

Das Massaker von Tiflis am 9. April 1989, bei dem friedliche Demonstranten von Uniformierten mit dem blanken Spaten erschlagen wurden, hat angeblich General Rodionow befohlen. Das Massaker von Baku just vor einem Jahr verantwortet General Walentin Warennikow. Man hat nicht von sie betreffenden Maßnahmen gehört. Die soldatischen Tugenden, die der Krieg in Afghanistan so trefflich gefördert hat, lobte General Gromow schnarrend vor dem vorigen Parteitag der KPdSU. Von politischer Kritik an ihm ist nichts bekannt. Im Gegenteil, er ist zweiter Mann im Innenministerium geworden.

Genügt das als Indizienkette? Die Herren Generale haben sich an internationalen Abkommen vorbeigemogelt, indem sie Schiesszeug hinter den Ural verlegten, statt es vertragsgemäß zu verschrotten. Beweist das mehr? Beweist es vor allem die Mitwisserschaft des nominellen Oberkommandierenden Gorbatschow? Sehen so die eisernen Zähne aus, die sein Amtsvorgänger als Staatspräsident, Andrej Gromyko, gelobt hat? Oder beweist es, dass die diktatorialen Vollmachten auf dem Papier stehen, wenn es um Gorbatschow geht, dass sie vielmehr von anderen genutzt werden? Dies war nun das dritte Mal: Tiflis, Baku, Wilna. Auf bittende Appelle an Herrn Präsidenten Gorbatschow, die Litauer künftig verschonen zu wollen, darf sich die Welt nicht beschränken.

Ein Wort des Bedauerns seitens des Herrn Gorbatschow käme zu spät, wäre zu wenig. Der Gewaltakt konstituiert das Recht Litauens auf Austritt aus einer Union, die ihr nichts anderes zu bieten hat. Die Anerkennung der litauischen (Exil-)Regierung sollte das mindeste sein: Die ist frei gewählt worden, unter Rahmenbedingungen der Perestroika, unter Einhaltung jener KSZE-Vorschriften, zu denen sich die Sowjetunion verpflichtet hat. Das zeichnet sie aus vor jenen, die gegenwärtig in Moskau die Marschmusik spielen.