Mann mit Charme

Michail Sergejewitsch Gorbatschow

Frankfurter Rundschau, 12. März 1985
Der studierte Jurist und Agrarökonom Michail Sergejewitsch Gorbatschow (54) hat überraschend schnell die Nachfolge des am Sonntag gestorbenen KPdSU-Generalsekretärs Konstantin Tschernenko angetreten. Er gilt als reformfreudiger Politiker.

Gorbatschow ist 1931 in Priwolnoje im Nordkaukasus geboren und gehört zu der Generation, die den Stalinismus kaum mehr aus eigener Anschauung kennt. Er wurde im letzten Lebensjahr Stalins, 1952, Parteimitglied, war während der reformfrohen Chruschtschow-Zeit in seiner Heimatregion Parteifunktionär und kam 1971 ins Zentralkomitee (ZK). Bis dahin hatte er sich als Spezialist für Jugendfragen einen Namen gemacht.

Im ZK, dem Parteiparlament, kümmerte er sich mehr und mehr um Landwirtschaftsfragen. Die sowjetische Agrarökonomie gilt als schwächstes Glied der Volkswirtschaft, vor allem wegen der Reglementierung durch den zentralen Plan und wegen des fast völligen Fehlens an betrieblicher Initiative.

Seit 1980, als er ins Politbüro aufrückte, sammelte Gorbatschow auch immer mehr außenpolitische Erfahrungen. Er ist mehrfach, zuletzt im vergangenen Dezember in Großbritannien, in diplomatischen Missionen unterwegs gewesen und hat dabei den Ruf eines für sowjetische Verhältnisse charmanten und humorvollen Politikers erworben. Während des Englandbesuchs Gorbatschows warnte US-Verteidigungsminister Caspar Weinberger vor der Wirkung dieser "Werbereise" in Sachen Abrüstungspolitik. Schließlich ist Gorbatschow nicht nur für Wirtschaftsfragen zuständig, sondern auch Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses des Obersten Sowjets. Dieser Platz gilt als angemessen für einen "Chefideologen".

Im Westen hatte man Gorbatschow schon vor einem Jahr, als Jurij Andropow starb, als Kandidaten für die höchsten Amter "gehandelt". Doch damals widersetzten sich die um eine Generation älteren Politbüro-Mitglieder wie Andrej Gromyko und Premier Tichonow noch seiner Wahl; sie wollten nicht unter einem jungen Aufsteiger dienen.