Leitartikel: Der gute Zar Michail

Frankfurter Rundschau, 1. März 1990
Der Oberste Sowjet hat am Dienstag seine Selbstentmachtung beschlossen. Er stimmte für einen starken Mann an der Spitze und gab die eigenen parlamentarischen Rechte weitgehend preis. Wenn alles normal läuft, haben die Volksvertreter auch künftig ihre Rolle zu spielen; in Krisenzeiten aber entscheidet die Nummer eins allein. Die demokratische Versicherung erlischt im Schadensfall. Das eilig durchgepeitschte Gesetz, das dem Staatspräsidenten größere Vollmachten als fast jedem seiner Berufskollegen gibt, verändert die politische Struktur der Sowjetunion ganz entscheidend.

Der Staatspräsident der UdSSR kann künftig fast allein über die Zusammensetzung der Regierung entscheiden. Der Vorbehalt der Zustimmung durch gewählte Instanzen ist gegenstandslos, solange den Volksbeauftragten der Mut zum Widerspruch abgeht; da der Staatschef das Parlament auflösen und neu wählen lassen kann, dürfte dieser Mut eher noch abnehmen. Der Präsident kommandiert die Streitkräfte, den inneren Sicherheits- und Geheimdienst (KGB) und das Innenministerium, kann den Notstand ausrufen und das Kriegsrecht verhängen und ganze Sowjetrepubliken seinem Kommando unterstellen.

Von der Notwendigkeit einer auch nur nachträglichen parlamentarischen oder juristischen Überprüfung ist nicht die Rede. Einen mit Vollmachten notfalls nachrückenden Vizepräsidenten sieht das neue Gesetz offenbar nicht vor. Und die Volkssouveränität ist nach der Wahl des Präsidenten dann wohl ausgeschöpft. Insgesamt bringt das Präsidenten-Gesetz eine so umfassende Revision des Sowjetstaates, daß man es je nach Geschmack als Staatsstreich oder als Revolution von oben charakterisieren kann.

Nun hat Michail Gorbatschow diese Machtfülle, diese Ablösung seiner Funktion vom Willen der Partei schon längere Zeit angestrebt. Ihn hat die demokratische Aufmüpfigkeit der baltischen Genossen ebenso gründlich geärgert wie der Aufschwung des vulgären Chauvinismus, sowohl des russischen wie des antirussischen. Daß unendlich viele Reform-Initiativen im bürokratischen Morast steckenbleiben, daß schlichte Unfähigkeit und böswillige Obstruktion die Staats- und Gesellschaftskrise von Tag zu Tag verschärfen, läßt sich ja auch nicht übersehen. Der Ruf nach dem starken Mann, der mit der Machete einen Weg durch den poststalinistischen Dschungel schlägt, ist laut und lauter geworden; vielleicht war er auch bestellt.

Immerhin stellen auch unabhängige Köpfe einschlägige Fragen. Roy Medwedjew, der unermüdliche Verfechter demokratischer Veränderung, hat am Dienstag für das Gesetz gestimmt, weil er ein Vertrauensvotum für den offenkundig einzigen Aspiranten auf dieses Amt darin erkannte. Andere argumentieren in tatsächlich oder vermeintlich geschichtsphilosophischen Dimensionen: Ist Rußland je anders vorangekommen als durch solche Über-Zaren wie Iwan den Schrecklichen oder Peter den Großen - oder durch solche Revolutionäre wie Lenin? Hat die Sowjetunion je Erfahrung mit dem demokratischen Diskurs gemacht? Fehlt dem Volk nicht doch die Reife zur Souveränität? Müssen den mächtigen zentrifugalen Kräften, nicht nur an der Peripherie des alten Rußlands, nicht ebenso mächtige oder mächtigere zentralisierende Kräfte entgegengesetzt werden? Braucht das russische Volk die Knute?

Diese Fragen enthalten, 72 Jahre nach der emanzipatorischen Doppel-Revolution des Jahres 1917, deren Bankrotterklärung. Der Gorbatschowismus bescheinigt einem Teil seiner eigenen Umbau-Ideologie die geistige Zahlungsunfähigkeit. Offenbar ist es nicht gelungen, aus dem Volk genügend Verbündete zu mobilisieren. Aus der Einsicht in die Unerträglichkeit der alten Zustände ist nicht die Kraft zur Wende gewachsen. Die bittere Wahrheit lautet: Noch im fünften Jahr der Perestroika ist die Sowjetgesellschaft immobil, und wenn sich etwas mobilisiert hat, dann Chaos und Verfall. Dies ist nicht das Ergebnis etwaigen demokratischen Überschwangs. Es ist das Erbe siebzigjähriger Überzentralisierung, die in der Hälfte ihrer Zeit Einmanndiktatur war.

Der "gute Zar" Michail Gorbatschow selbst hat einmal gewußt, daß eine lebensfähige Sowjetgesellschaft nur wachsen kann, wenn der persönlichen Initiative und der persönlichen Verantwortung aller ihrer Bürger Entfaltungsraum gegeben wird; wenn sich letztlich zweihundertsiebzig Millionen Menschen in ihrer Mehrheit demokratisch, freiwillig und überzeugt zu ihrem Staat bekennen. Daß der Anstoß "von oben" kommen mußte, da "unten" nichts war, trifft gewiß zu. Nur kann "von unten" nichts kommen, wenn alle Verantwortung zentralisiert, also von der Basis der Gesellschaft entfernt wird.

Vorderhand mag Eile geboten sein, um den Zerfall aufzuhalten. Vorderhand gibt es auch kein Indiz, daß Gorbatschow in Stalins Fußstapfen treten könnte, und keinen Grund, etwa an seiner internationalen Seriosität zu zweifeln. Daß der Nachfolger ähnliche Qualitäten haben könnte wie derjenige, der sich die Verfassung der Supermacht auf den Leib schneidern läßt, muß indes als die unwahrscheinlichste aller Varianten gelten. Die Volksdeputierten haben jetzt die Verantwortung, demokratische Sicherungen einzubauen, die Gewaltenteilung zu verwirklichen, in diesem Sinne das Präsidialsystem zu "amerikanisieren": Dort liegen zwei Jahrhunderte nützlicher und manchmal auch alarmierender Erfahrungen mit einer Art Wahl-Monarchie vor. Unterlassen die Volksdeputierten am 12. und 13. März das Nötige, so mag es sein, daß sie einem Bonapartismus auf sowjetische Art den Weg freigeben.