Carolus magnus

Von Roderich Reifenrath
Als vor Urzeiten Karl der Große "mit Verstandesschärfe und unbeugsamer Willenskraft" Europa seinen Stempel aufdrückte, da konnte er natürlich nicht ahnen, dass Hunderte von Jahren später ein Mann gleichen Namens auf ganz andere Weise für Aufsehen sorgte. In der Welt der Mächtigen tauchte zwar fast schon penetrant immer wieder von neuem ein "Karl" auf (Karl der Kahle, Karl Martell - der "Hammer", Karl der Dicke, Karl der Kühne, Karl der Hinker, Karl der Böse, Karl der Weise, Karl der Schöne, Karl der Siegreiche, Karl der Wahnsinnige, Karl IV., KarlV....CharlesdeGaulleund, das Schöngeistige muss auch sein, Don Carlos).

Aber das waren, soweit sie in der Nachfolge auftraten, wohl weitgehend die üblichen Trittbrettfahrer. Sie sollten und wollten vom Ruhm jenes Karolingers zehren, der einst als Idealfigur des christlichen Herrschers angehimmelt und später sogar als Heiliger verehrt wurde - kanonisiert Anno 1164 durch den Gegenpapst Paschalis III. Und lang ist auch die Liste derer, die im eher beschaulichen Alltag auf einen der verbreitesten Eigennamen hörten und hören: althochdeutsch Charal, latinisiert Carolus, französisch und englisch Charles, italienisch Carlo, spanisch Carlos (siehe oben). Aber unser Karl, den es hier in Ehren aus Amt und Würden zu verabschieden gilt, ist schon etwas Besonderes. Ein Solitär unter seinesgleichen.

Um Missverständnisse gleich auszuräumen: Karl Grobe (nicht: Karl der Grobe) verfügt weder über Krieger zu Fuß noch zu Pferde. In seinen langen, erfolgreichen Jahren als kämpferischer Journalist unterwarf er weder Ostfalen noch Westfalen (mag sein, vielleicht, ein bisschen die Chinesen), noch die Sachsen. Er belagerte weder Pavia, noch eroberte er Pamplona oder gar Saragossa. Und er besitzt auch nicht so etwas Geheimnisvolles wie die Schlüssel zum Grab des Petrus - insofern sind sämtliche direkten Vergleiche mit Karl dem Großen schlichtweg unsinnig. Bestenfalls im Scherz erlaubt. Dafür jedoch ist er mit Schätzen gesegnet, um die ihn manche beneiden und die ihm - man muss es betonen - niemand rauben kann. Auch insoweit wirken alle Hinweise auf jene Zeiten, die als Mittelalter schreckliche Geschichte geworden sind, abwegig. Damals nämlich hätte Karl aus Bremen seinen gewaltigen Vorrat an Wissen wohl kaum hinter dem Schutzwall eines geistigen Copyrights verbarrikadieren und verwalten können.

Mit Daumenschrauben und ähnlichen Schmerzmitteln hätten Folterknechte wahllos alles aus ihm herausgepresst (und sei es unter Anschuldigung der Hexerei), was er heute im milden Klima der Demokratie nach eigenem Gusto selbst verwaltend besitzen darf. Und verteilen kann, was er ohne Unterlass tut. Man muss die Fantasie nutzen, um sich genau vorzustellen, wie das funktioniert: Bereits Jahrzehnte vor dem Computerzeitalter speicherte da ein Mensch in eher beengten Büroräumen unglaubliche Massen an Informationen, sichtete und sortierte und holt auf Zuruf aus dem Gedächtnis große Wissensbestände wieder ans Licht der Öffentlichkeit. Selbst altgediente Redakteure müssen ihre Blicke weit durch die Verlagsstuben der Republik schweifen lassen, um anderorts ähnlich markante Fähigkeiten zu entdecken. Da liegt es natürlich nahe, die Historie zu bemühen, damit das Volumen der grobespezifischen Eroberungen sichtbar wird. Karl der Große machte sich mit Feuer und Schwert ausgewählte Teile der Erde untertan; Länder und Staaten des alten Kontinents, in denen Groß- und Kleinspuriges und manchmal sogar Weltmacht-Mentalitäten aufzutrumpfen beliebten. Zeittypische Begrenzungen in der Fläche lassen diesen Karl jedoch unter den Bedingungen der Moderne zur Regionalgröße schrumpfen.

Bei Karl aus Bremen waren und sind raumgreifende Ziele anderer, intellektueller Art angesagt. Da reicht der Horizont des Interesses von den Terrakotta-Soldaten in Xi’an bis zum Streitpotenzial im Vorwärts unter der Kärrner-Vormundschaft Wehners, vom untergegangenen Sowjetreich bis zum Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein des Ferdinand Lassalle, von Marie Curie bis Rosa Luxemburg, von Marx bis Mao, von Dietzenbach bis Phnom Penh, von den Taliban bis zu den Khmer Rouge, von Hitler bis Stalin ... von bis, von bis. Humboldt’sche Dimensionen. Dass sich solches Fakten-Magma gelegentlich eruptiv den Weg nach außen bahnt: das wird jeder verstehen, der auch nur den Hauch einer Ahnung von den Gesetzen der Physik hat. Karl der Vulkan.

Und so wird man den Kreis schließen dürfen. Im Vergleich zu Karl dem Großen ist unser Carolus magnus mit Abstand friedfertiger, weiter gereist, höher gebildet. Und um abschließend noch einmal das globale Gewicht dieses Namens zu dokumentieren, sei darauf hingewiesen, dass - wer weiß es schon! - in der Numismatik das Wort Carolus eine große Rolle gespielt hat. Säulenpiaster hieß das gute Stück, das, auch Altkopftaler genannt, nach Afrika, Ostindien und Ostasien "ausgewandert" ist. Am beliebtesten war der mit dem Gepräge "Carolus III". So jedenfalls behauptet es Meyers Konversationslexikon von 1903. Und damit wollen wir das teils versteckte, teils deutliche Loblied auf einen ungewöhnlichen Journalisten beenden, der vor grauer Vorzeit von der Weser über den Rhein an den Main kam und seine Kolleginnen und Kollegen gelegentlich dazu brachte und bringt, ungläubig zu staunen. "Karl, sag doch mal ..."