Ad multos annos! ad multa scripta!

Von Dieter Senghaas
Vor einem Jahr erreichte mich aus Südkorea ein Brief zusammen mit einem Konzertprogramm. Absender war das Forum of Democratic Leaders in the Asia-Pacific, eine Organisation, die von der Kim Dae-jung Foundation gefördert wird. Eingeladen wurde für den 19. Oktober zu einem Konzert "Sounds of Peace" im Olympiastadion Seouls. Gefeiert werden sollten "Frieden und Harmonie, welche von der Gemeinsamen Deklaration Süd- und Nordkoreas vom 15. Juni 2000 ausstrahlen". Berühmte Popkünstler sollten auftreten: "Zusammen werden sie mit symbolischen Klangharmonien eine Botschaft des Weltfriedens vermitteln" -- so war im Einladungsbrief zu lesen.

Der Brief erreichte mich spät, zu spät, um der Einladung zu folgen, jedoch zu einem für mich memorablen Augenblick: Ich war gerade dabei, ein Buchmanuskript mit dem nämlichen Konzerttitel abzuschließen: Der Gleichklang des Konzert- und Buchtitels machte mir die politische Relevanz meines keineswegs in politischer Absicht geschriebenen Textes bewusst. Denn: "Sounds of Peace" nahm natürlich auf die Tatsache Bezug, dass inzwischen ein jahrelang verfolgter Dissident und Oppositionspolitiker, Kim Dae-jung, den ich wenige Jahre zuvor in Seoul in kleinem Kreise kennen gelernt hatte, nicht nur zum Präsidenten Südkoreas gewählt worden war, sondern im Hinblick auf seine neue Politik gegenüber Nordkorea, der so genannten "Sonnenschein-Politik", mit dem Friedensnobelpreis geehrt wurde.

"Sounds of Peace": das Vorhaben erinnerte mich jedoch auch unmittelbar an eine andere große Persönlichkeit Koreas, den Komponisten Isang Yun und dessen friedensbezogene Werke. Die Aufführung einer seiner Kompositionen war im Olympiastadion nicht vorgesehen, nicht weil es heute in Südkorea noch ideologische Vorbehalte gegen Yun gibt; seine Musik eignet sich einfach nicht für Großkonzerte der genannten Art.

In Isang Yuns gesamter Biografie (er wurde 1917 geboren und starb 1995 in Berlin) dokumentieren sich in personam die Tragödien der Geschichte Koreas im 20. Jahrhundert, aber auch die Lichtblicke und Hoffnungen, die sich mit den jüngsten Entwicklungen auf der Halbinsel verbinden. Yun hatte sich weder während des Zweiten Weltkrieges mit dem Besatzungsregime des faschistischen Japan noch später in Südkorea mit den Militärdiktaturen arrangiert. Als Oppositioneller wurde er vor 1945 von den Japanern verfolgt, verhaftet und gefoltert. 1956 kam er nach Westeuropa (Paris und Berlin), um sich mit den kompositorischen Techniken der europäischen Avantgarde vertraut zu machen. Gleichzeitig engagierte er sich mitten im Kalten Krieg vom geteilten Deutschland aus für die Wiedervereinigung von Nord- und Südkorea, dem -- anders als Deutschland -- unverschuldet zweigeteilten Land.

Im Juni 1967 wurde Yun vom südkoreanischen Geheimdienst entführt, von Berlin nach Seoul verschleppt, dort inhaftiert und nunmehr von seinen eigenen Landsleuten gefoltert und zu lebenslanger Haft verurteilt. Nur auf Grund von internationalen Protesten kam er zwei Jahre später frei und konnte nach Deutschland zurückkehren.

Yun liebte sein koreanisches Land, dessen südlichen Teil er bis zu seinem Tod nicht mehr sehen konnte. Er verabscheute die unterschiedlichen Diktaturen des Nordens und des Südens, konnte oder wollte sich jedoch der merkwürdigen Zuneigung des Spätstalinisten Kim Il-sung, Nordkoreas "Großem Führer", nicht entziehen: Mehrfach wurde er nach Pjöngjang eingeladen, wo seit 1982 regelmäßig Isang-Yun-Festspiele veranstaltet wurden und es seit 1993 ein Isang-Yun-Musikinstitut gibt. Dieser Sachverhalt und Kompositionen wie beispielsweise "Exemplum in memoriam Kwangju", mit der Yun gegen ein Massaker des südkoreanischen Militärs in der Provinzhauptstadt Kwangju protestierte, machten den Komponisten zu einer im Süden verfemten Figur.

Heute jedoch figuriert Yun wie ein musikalischer Brückenbauer zwischen dem Norden und dem Süden. Schon im November 1998 fand in Pjöngjang ein dreitägiges Isang-Yun-Wiedervereinigungskonzert statt. Damals noch musizierten die nord- und südkoreanischen Musiker an verschiedenen Abenden nicht mit-, sondern nacheinander. Inzwischen steht der Aufführung der Werke von Yun auch im Süden des Landes nichts mehr im Wege. Und 1999 bereiste das von Yun inspirierte und trainierte Isang-Yun-Ensemble aus Pjöngjang mit großem Erfolg das wiedervereinigte Deutschland.

So hat Isang Yun, der koreanische Emigrant mit deutscher Staatsangehörigkeit, mit Musik zur Vorbereitung der "Sonnenschein-Politik" des heutigen südkoreanischen Präsidenten beigetragen, ehe diese Politik formuliert war bzw. in erste praktische Versuche übersetzt werden sollte. Im Übrigen verdankt Kim Dae-jung selbst sein Leben dem politischen Engagement Isang Yuns und dessen Freundeskreis: 1973 sollte der inhaftierte Oppositionspolitiker Kim von einem Schiff aus in einer Kiste im Meer versenkt werden. Dieser Plan der südkoreanischen Diktatur wurde bekannt und durchkreuzt, weil es Personen wie Yun -- damals von Berlin aus -- gelang, einen weltweiten Protest gegen die Absichten der südkoreanischen Diktatur zu mobilisieren. Selbst der US-Geheimdienst überwachte seinerzeit mit Hubschraubern die Küste Südkoreas, um den Anschlag auf das Leben Kims zu durchkreuzen!

Doch Isang Yuns Biografie dokumentiert ein Weiteres: Ihm ist es nicht nur gelungen, Brücken zwischen den beiden Koreas zu schlagen. Seiner Musik verdanken wir auch einen besonders eindrucksvollen Beitrag zum interkulturellen Dialog -- langfristig sein eigentliches künstlerisches Vermächtnis. Nach einer Anfangsphase des Suchens und Experimentierens ist dieser Dialog in jeder der Yunschen Kompositionen aus der mittleren und späteren Schaffensphase erkennbar. Für europäische Ohren hören sich viele dieser Werke "asiatisch" an; koreanische Ohren, so wird berichtet, empfinden die Musik ihres Landsmannes als "europäisch". Allein schon dieser Sachverhalt dokumentiert, dass es Yun offensichtlich gelungen war, einen innovativen kompositorischen Ausdruck zu finden, der sich nicht kulturell-additiv darbietet, sondern ganz eigener Art ist.

Warum erinnere ich an diese Geschichten aus Anlass des 65. Geburtstages von Karl Grobe? Der Grund ist nahe liegend. Die Dramatik von Weltpolitik und das wechselvolle Schicksal von Individuen darin, die Konvulsionen und Umbrüche der Politik, die engagierte Kritik von Despotie und eine beharrliche Orientierung an humanen Zielen -- das sind geschichtsmächtige Sachverhalte, die jahrzehntelang unseren Jubilar umtrieben und ihn zu gleichermaßen politisch zielgerichteten wie einfühlsamen Essays veranlassten.

Im Übrigen benötigt eine mit gewaltträchtigen Konflikten durchsetzte Welt in den Künsten und Wissenschaften, in der Politik und in den Medien Brückenbauer wie Yun und Kim Dae-jung. In seinem eigenen Metier, dem Journalismus und der Schriftstellerei, war Karl Grobe immer auch Brückenbauer, wenngleich von ganz spezifischer Art: So war beispielsweise sein Zugang zu Ostasien niemals nur einer des Intellekts, sondern auch der, wenngleich analytisch eingehegten, politischen Emotion. Gerade aus dieser Kombination resultierten die scharfsinnigen und empathischen Analysen, die in den vergangenen Jahrzehnten vielen Lesern halfen, für sich selbst einen Zugang zu fernen Ländern, die Karl Grobe als Weltenbeobachter kommentierte, zu finden. Ganz ohne Zweifel haben seine Beiträge, die immer pointilistische Detailanalyse und weltpolitischen Weitblick kombinierten, in dieser Republik nachdrücklich zu einer aufgeklärten außenpolitischen Urteilsbildung beigetragen.

Und welches besondere intellektuelle Vergnügen war es, mit ihm, dem famosen Landeskenner, wochenlang durch ein sich vom Maoismus befreiendes, zutiefst desorientiertes China zu reisen und an seinen immer inspirierenden Bemühungen um erneute Bestandsaufnahme und Reorientierung Anteil zu haben.

Ad multos annos! ad multa scripta!