Prager Pitaval

Hamburger Echo, 20. Mai 1963
Ein Pitaval ist eine Sammlung merkwürdiger Kriminalfälle. Die Slansky-Affäre nimmt ihren Platz darin ein. Zu ihr gehört auch die Absetzung des slowakischen Parteisekretärs Karol Bacilek, die ihrerseits nur eine Fortsetzung der Affäre Barak vom vergangenen Sommer zu sein scheint. Parteichef und Staatspräsident Novotny säubert, aber er gehört zu denen, die auch belastet sind.

Elf Jahre liegt der Prozeß gegen Slansky und Clementis nun zurück, wie die Säuberungwelle in allen Ostblockstaaten, der alle die Kommunisten zum Opfer fielen, die glaubten, auch ein Parteimitglied dürfe gelegentlich eigene Gedanken haben. Diesen Irrtum büßten sie mit ihrem Leben oder mit langen Freiheitsstrafen. Zu den aus eigenem Ermessen und mit Stalins Billigung beförderten Großinquisitoren gehörte wie Novotny auch Ulbricht, wie Bierut in Polen auch Rakosi in Ungarn...

Anders als in Polen und Ungarn haben die getreuen Gefolgsleute Stalins von ehedem sich in Prag und Ostberlin noch immer halten können. Wendig haben sie sich auf einen neuen Meister eingestellt; von Stalinisten umringt, selbst Stalinisten, wollen sie doch moderne Parteiführer nach Chruschtschows Bild sein.

Der pfiffige Blödian Schwejk verkaufte Promenadenmischungen als rassereine Pudel, wenn die verehrte Kundschaft es so wünschte; notfalls färbte er ein bißschen nach. Novotny nennt alte Stalinisten sozialistische Demokraten und umgekehrt, wenn es die Umstände erfordern, und der verehrte Kunde Chruschtschow scheint’s zufrieden zu sein; er reklamiert nicht.

Aber jüngere Parteiführer, denen die Slansky-Liquidierung nicht angekreidet werden kann, wollen die Wahrheit wissen; für sie ist sie eine Waffe, die man gegen Novotny wenden kann, wenn er im Wege steht. Sie ha1ten es weniger mit Hascheks Schwejk, sie denken eher an Kisch und seinen Drang zur Wahrheit; sie nennen einen Kriminalfall nicht einen "Auswuchs des Personenkultes", sie halten dem Scharfrichter die Waffe unter die Nase.

Über kurz oder lang werden sie sich nicht mehr dadurch beschwichtigen lassen, daß Untergeordnete wie Barak und Bacilek gehen müssen, Novotny aber bleibt. Sie werden weiterforschen. Kann ihnen dann noch die Rolle verborgen bleiben, die In Ulbrichts Auftrag die Belastungszeugen aus der DDR gespielt haben, als Slansky und Clementis geopfert wurden?

Novotny und Ulbricht finden sich bedrängt; Ihnen bleibt es allein möglich, weiterhin den beflissenen Schwejk zu spielen. Wie lange wird die Generation der Kischs sich dadurch hinhalten lassen? Und: Hinter wem steht Chruschtschow, dem die Schwejks ihre Macht verdanken?

Der sowjetische Staatschef kann logischerweise nicht die Annäherung an Tito betreiben und zugleich die Richter über die "Titoisten" aus den Kominform-Jahren unterstützen.

Daß die DDR und die CSSR sich in die chinesische Fraktion des Weltkommunismus einreihen, ist aus vielerlei Gründen nicht sehr wahrscheinlich. Sie haben sich diesen Weg 1962 verbaut.