Stalins Geist spukt und droht

Grenzen und Möglichkeiten der Literatur in der Sowjetunion

Hamburger Echo, 24. April 1963
Die sowjetische Literaturpolitik ist scheinbar zu Stalins Methoden zurückgekehrt. Bahnt sich eine neue Schdanow-Ära an? Ist die "Tauwetterperiode" ein für allemal beendet? Unser Beitrag soll versuchen, die Hintergründe des "Harten Kurses" darzustellen und das Dilemma zu zeigen, in das die Kulturpolitik des Kreml hineinführt.

"Sie schreiben ganz ernsthaft, ja sogar mit einem gewissen Mitgefühl über die Verwirrung, die durch die Abschaffung des ,Stalinkultes’ in den Hirnen einiger junger Leute entstanden ist. Solch einem ,kopflosen' Waisenkind möchte ich am liebsten zurufen: ,War denn Stalin für dich die Personifizierung des Kommunismus?' (wie bei einer Religion)."

"Und für Sie - war er es nicht?"

In diesem Gespräch zwischen Lew Anninskij und Larissa Krjatschko wird deutlich: das Verhalten eines Autors zu Stalin ist zum Testfall der sowjetischen Literatur geworden. Man möchte sich von der Ära des Terrors distanzieren; man kann es aber nicht so recht, denn irgendwie ist man doch kompromittiert.

Die Verwirrung, von der Larissa Krjatschko spricht, hat sich erst allmählich gelegt. Vor allem junge Autoren haben sie zu überwinden gewagt. Von ihnen ist Jewgenij Jewtuschenko durch seine Reise in der Bundesrepublik weiteren Kreisen bekannt geworden. Sein Werk schien eine entscheidende Abwendung vom "sozialistischen Realismus" anzukündigen.

Vor allem seit dem 22. Parteitag der KPdSU konnte man hoffen, daß die stalinistischen Literaturpäpste endgültig von der Bildfläche verschwanden. Zwar hatten sie in der Zeitschrift "Oktjabr" und ihrem Chefredakteur Kotschetow noch ein einflussreiches Organ; aber "Nowy Mir", von Twardowskij geleitet, wurde mehr und mehr zum Sprachrohr des neuen Kurses. Und selbst die "Iswestija", deren Verantwortlicher Chruschtschows Schwiegersohn Adschubej ist, urteilte überraschend milde über junge, scharf antistalinistische Autoren. Viele von ihnen wurden bald bekannt: der schon erwähnte Jewtuschenko; Roschdestwenskij; Solschenizyn ("Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch"); Baklanow ("Ein Fußbreit Boden", sein realistischer Kriegsroman, erschien in "Nowy Mir"); aus der älteren Generation kann man Nilin ("Genosse Wenka", im Original: "Schestokostj", Grausamkeit) erwähnen, ebenso Viktor Nekrassow, dessen Reisebericht "An beiden Seiten des Ozeans" jetzt wegen liberaler Neigungen verurteilt wird.

An einer kritischen Diskussion über den Stalinismus ist der Bürokratie offenbar noch immer gelegen. Es gibt da aber Tabus. Erstens darf nie der Verdacht aufkommen, seit der Stalinzeit habe sich im Gefüge der Gesellschaft nichts geändert. Auseinandersetzung mit der Vergangenheit - gut; es muß aber deutlich sein, daß es sich um Vergangenheit handelt. Kein Schatten hingegen darf auf Chruschtschow fallen oder auf die Parteiführung von heute.

Zweitens muß der Sowjetpatriotismus unter allen Umständen durchklingen; der "sozialistische Aufbau" darf nicht angetastet werden.

Drittens darf auch nach den Erfahrungen mit dem nicht mehr so großen Kaukasier die Rolle der Partei im Sowjetstaat nicht in Frage gestellt werden.

Ebensowenig kann die Literatur von der allgegenwärtigen politischen Ideologie und ihrer Auslegung durch die Parteispitze abrücken.

Also: Kritik in bestimmten Grenzen ist erlaubt. Aber das führt zu erheblichen Widersprüchen.

Sicher hat sich in den vergangenen zehn Jahren vieles gewandelt. Die Methoden der Herrschaft lassen sich mit denen einer funktionierenden Demokratie noch in keiner Weise vergleichen; aber ebensowenig ist heute ein Vergleich mit der Stalinzeit mehr möglich.

Dennoch herrscht auf neue Art dieselbe soziale Minderheit weiter: die Bürokratie. Sie war ebenso Stalins Geschöpf wie Stalin ihr Erzeugnis war. Beide waren miteinander entstanden und konnten nur gemeinsam entstehen.

Wie kann aber ein Schriftsteller die so entstandenen Grenzen einhalten? Er müßte schon ein besserer Marxist sein, als die Partei ihm erlaubt, und seine Scheuklappen abwerfen. Deshalb ziehen die Bürokraten die Zügel wieder an. Daß Chruschtschow hier in den Altstalinisten Verbündete findet, kann er wohl nicht umgehen. Denn die haben schon immer ein tiefes Mißtrauen gegen "Revisionisten" empfunden.

Zweifellos kann man Jewtuschenkos Selbstkritik trotz aller nachfolgenden Drohungen nicht so bewerten wie unter der Faust Stalins die Selbstbezichtigungen; eine totale Rückkehr zum "Sozialistischen Realismus" kann sich auch die Bürokratie nicht mehr erlauben. Sie stieße alle Beobachter im Westen vor den Kopf, die durch Modernisierung des Systems angesprochen werden sollen. Zudem hat das Wirken der jungen Schriftstellergeneration schon zu u viele Tabus eingerissen.

Eine Verschärfung der Diktatur würde schließlich die Verständigung mit dem Westen, die Chruschtschow durchaus ernst meint, verhindern.

Andererseits überschattet der Konflikt Im kommunistischen Lager selbst diese Diskussionen; eine offene, kritische, unbefangene Sowjetliteratur würde in den Augen der stets mißtrauischen Chinesen bald das Drachengesicht des Titoismus annehmen.

Nach alldem steht zu erwarten, daß die augenblickliche Rückkehr zur Gängelung der Literatur eine Durchgangsetappe ist, wie es die beinah stürmische Liberalisierung auch war. Die kommende Politik des Kreml den Künstlern gegenüber wird weiterhin schwanken und Zickzacks beschreiben, wie der politische Weg der Partei überhaupt.


Diese Karikatur entnehmen wir der Moskauer "Prawda". Dieses Blatt veröffentlicht in derselben Ausgabe auf Seite 1 den Beschluß, für den 28. Mai (1963) eine Sondersitzung des ZK-Plenums einzuberufen, das über "die ideologische Anleitung der Partei- und Sowjetarbeiter, der Schriftsteller und Künstler, der in Wissenschaft, Volkserziehung, Presse, Rundfunk, Fernsehen Tätigen und anderer Vertreter der schöpferischen Intelligenz aus den Republiken, Gauen und Kreisen" befinden soll. In welchem Sinne der designierte Redner, Parteiideologe Leonid Iljitschow, sprechen wird, geht aus der Karikatur hervor. - Die Bildunterschrift lautet: "Ausstellungsbesucher..."