Afghanistan: Hinter den Taliban

Frankfurter Rundschau, 8. Oktober 1996
Die Zauberlehrlinge in den Geheimdienstzentralen von Langley und Islamabad sind entsetzt, zum zweitenmal in sechs Jahren. Die magische Formel von CIA und ISI wirkt: Die sowjetische Invasion in Afghanistan und mit ihr die kommunistische Herrschaft möge in Chaos versinken. Das war nicht nur ein Wunsch. Das wurde zweimal Wirklichkeit.

Zum erstenmal: Mit den Waffen und Finanzen, äußerst freigebig an die verschiedensten Widerstandsgruppen verteilt, wurde die Fremdherrschaft beseitigt. Aber auf das Regime, das ein rückständiges Land mit Panzern und Hinrichtungskommandos in die Moderne (Moskauer Baureihe) zwingen wollte, folgte nicht Freiheit. Vielmehr: Der Widerstandskrieg schlug um in Bandenkrieg. Die Einheitsstaat-Diktatur unter dem roten Banner wurde abgelöst durch Cliquenkämpfe von kleinen und größeren Militär- und Marodeurführern unter der grünen Fahne.

Zum zweitenmal: Um das Chaos zu beenden, wendete man das erste Mittel nochmals an, nur daß die Widerstandsgruppe diesmal Taliban heißt. Die "Koranschüler" oder "Sucher der Wahrheit", Übersetzungen des Namens gibt es viele, sind ohne jeden Zweifel ein Geschöpf der pakistanischen ultrareligiösen Schule. Das gilt für die Mullahs, die sie führen. Die in vielen Fällen noch jugendlichen Kämpfer entstammen einer Generation, die außer dem Umgang mit Waffen nichts hat lernen können, am wenigsten den Umgang mit den Rechten anderer, kaum das Alphabet. Eins freilich hat die gesamte Bewegung verstanden: Daß die warlords von gestern die islamische Religion ihren eigenen Zwecken dienstbar gemacht, also verraten haben, und daß ihnen die Korruption über den Koran ging.

Daraus folgt eine einfache Botschaft, eine "Idee, die die Massen ergreift" und somit zur bewegenden Macht wird. Sie lautet: radikale Islamisierung. Die Taliban errichten dort, wo sie bereits an der Macht sind, ein Regime, das an islamischer Härte und "Fundamentalismus" iranische und sogar saudiarabische Verhältnisse in den Schatten stellt.

Über Hinrichtungen und Auspeitschungen auf offener Straße aber rümpfen nicht einmal jene Leute in Washington die Nase, die China bei jeder Verletzung der Menschenrechte den Handelskrieg erklären wollen. Und der scharia-gesetzliche Ausschluß der afghanischen Frauen von Bildung, Arbeit und Bewegungsfreiheit hindert die pakistanische Regierung der Frau Benazir Bhutto nicht, den Taliban begrüßenswerte Frömmigkeit und das Streben nach ehrlicher Regierung nachzusagen. Soviel zu den Indizien für eine amerikanisch-pakistanische Fernzündung der Bewegung, so sehr die mit entrüstetem Augenaufschlag geleugnet wird.

Fernzündung, nicht Fernsteuerung. Die Taliban haben sich, wie andere zum Leben erweckte Zauberlehrlingsbesen auch, selbständig gemacht. Ihr Radikal-Islamismus ist aus der Zerrüttung der afghanischen Gesellschaft gewachsen, als Negation und zugleich als Fortsetzung des Zerfalls. Ruhe und Ordnung herrschen auf den Handelsstraßen. Auf denen wird auch Rauschgift transportiert; dieses Erbe schlägt die neue Kraft nicht aus, sofern es nicht Gläubige schädigt, sondern nur Ungläubige.

Den paschtunischen warlords setzen die Taliban eine paschtunische Zentralmacht entgegen. Nur mit ethnisch Verwandten, "Stammesbrüdern", hatten die Taliban bisher zu tun, was die Leichtigkeit ihrer militärischen Erfolge erklären mag: Überläufer hatten es leicht, Anlässe zu finden. Seit Ende voriger Woche aber haben sie sich mit der ersten ernsthaften Streitmacht angelegt. Sie stellt sich ihnen im Panjschir-Tal entgegen: die tadschikischen Milizen des Achmed Schah Massud. Damit wird der vermeintliche Fundamentalisten-Krieg zum Völkerkrieg.

Der ist grenzübergreifend, denn von Massuds und (Ex-)Premier Burhanuddin Rabbanis tadschikisch-islamischer Front führen mehr als nur dünne Fäden in den islamistischen Widerstand von Tadschikistan selbst. Zudem stützt sich auch die zweite bedeutende Kraft im noch taliban-freien Afghanistan auf ein Hinterland: Die Kräfte des usbekischen Herrn des Nordens, Raschid Dostum, sind nicht ganz unabhängig von der Taschkenter Regierung und der nachsowjetischen Usbeken-Nomenklatura. Präsident Boris Jelzins SOS-Ruf zur Konferenz in Almaty (früher Alma-Ata) und der dort gefaßte Beschluß, Dostum beizuspringen, vor allem die tadschikische Südgrenze zu befestigen, hat wiederum mit der dort unterstellten Abhängigkeit der Taliban von Islamabad und Washington zu tun.

Es sind im Sieg der Taliban also Konfrontationen angelegt, welche außer den regionalen Mächten auch die größeren ins nicht mehr ganz so "große Spiel" hineinziehen. Da geht es nicht um Ideologien oder Religionen; es geht um Macht. Akteure und Hintermänner bewirken jedoch anderes, als sie anzustreben vorgeben. Sie erzeugen den Todeskampf aller gegen alle. In diesem Sinne, und nicht wegen fundamentalistischer Siege, führen die Zauberlehrlinge Asiens Mitte zurück ins Mittelalter.