Afghanistan: Kabul besetzen und Schrecken verbreiten

Mit dem Sieg der Taliban-Milizen in Afghanistans Hauptstadt ist der Bürgerkrieg noch längst nicht beendet

Frankfurter Rundschau, 28. September 1996
Die Machtübernahme war gut vorbereitet, als hätte ein funktionierender Generalstab oder eine welterfahrene Consulting-Firma den afghanischen "Koranschülern" geraten: Verbindungslinien besetzen, Regierung ernennen, Vorgänger formell absetzen, eine symbolische Abschreckung inszenieren, zack-zack. So geschah es am Freitag in Kabul, kaum daß die letzte der zahllosen nachkommunistischen Regierungen im Schutz der Dunkelheit, offenbar von panischer Angst beflügelt, die Hauptstadt Afghanistans ihrem Schicksal überlassen hatte.

Ein Sechser-Rat der Taliban, der "Koranschüler", übernahm das, was an Regierungsgeschäften zu übernehmen ist. Mullah Muhammed Omar leitet diese "Übergangsregierung", ohne zu bekunden, wohin der Übergang führen werde. Den Diplomaten, die Afghanistan im Ausland vertreten, wurde per Rundfunk gekündigt. Sender und Studios wurden besetzt. Ebenso der Luftwaffenstützpunkt Baghram.

Und es folgte die Abschreckungshandlung. Ohne viel Federlesens holten die Taliban den letzten Staats- und Regierungschef der kommunistischen Zeit aus dem Gebäude der Vereinten Nationen. Dort hatte Najibullah 1992 Zuflucht gefunden. Die islamistischen Herrscher, die ihn damals gestürzt hatten, haben das Asyl stets respektiert.

Solche Skrupel, aus internationalem Recht stammend, waren den Taliban am Freitag fremd. Morgens um drei Uhr bat Najibullah per Funk eine andere UN-Dienststelle in Kabul: "Ich brauche irgendeinen Schutz!" Seine Bewacher waren verschwunden. Es kamen die Sieger. Najibullah wurde mißhandelt und an einem Laternenpfahl aufgeknüpft. Daneben sein Bruder Schapur Ahmedzai, seinerzeit Chef des Geheimdienstes Khad.

Das waren nicht die einzigen Hinrichtungen. Der Büroleiter der Deutschen Welthungerhilfe in Kabul, der Kanadier Richard Williamson, berichtete der Nachrichtenagentur dpa telefonisch, die Taliban durchkämmten Häuser und Höfe und "suchen nach Leuten, die unerwünscht sind". In der Nachbarschaft des Welthungerhilfe-Büros, in einem der besseren Wohnviertel, seien zahlreiche regierungstreue Kommandeure exekutiert worden. Es gebe noch Straßenkämpfe, sagte Williamson.

Kabul sei so rasch eingenommen worden, daß nicht alle Anhänger der Regierung die Stadt hätten verlassen können. Der Großteil der Bevölkerung hoffe nach dem Einzug der Taliban auf eine Besserung der Lage. Die Frauen in der Stadt seien von den als fundamentalistisch geltenden Taliban-Kämpfern zunächst weitgehend unbehelligt geblieben, berichtete Williamson. Man müsse abwarten, ob die Taliban in der Hauptstadt wie in den von ihnen beherrschten Provinzstädten den Schleierzwang und andere Beschränkungen durchsetzen könnten. "Viele sind hoffnungsvoll, sogar außerordentlich hoffnungsvoll", sagte Williamson. Viele Familien hätten ihre Kinder wegen der Preissteigerung nicht mehr ernähren können.

An Najibullahs Leiche defilierten unterdessen Zehntausende vorüber. Der Mann, Moskaus letzter Statthalter in Afghanistan, war verhaßt. Er hatte seit 1980 den Geheimdienst aufgebaut, hatte sich in den Machtkämpfen im Schutz der sowjetischen Besatzung seit 1980 von Stufe zu Stufe nach oben geputscht, hatte die ursprünglich links und revolutionär eingestellte städtische Elite dezimieren geholfen und, als die Sowjets das Land verließen, gar noch eine national-islamische Wende versucht. Von den Moskowitern alleingelassen, bemühte er sich um jenen Frieden, den die UN zu vermitteln suchten. Dieser sogenannte Frieden zerbrach an den Machtkämpfen und Intrigen der Mudschaheddin. Als der usbekische Milizenführer Abdul Raschid Dostum sich von ihm abwandte, blieb ihm nur mehr die Flucht ins UN-Asyl. Dort holten die Taliban den 49jährigen am Freitag um drei Uhr morgens ab und brachten ihn um. Da hatte Afghanistans Regierung unter Präsident Burhanuddin Rabbani und seinem Premierminister Gulbuddin Hekmatyar längst in einem Konvoi von Luxusjeeps das Weite gesucht. Unter dem Einsatz von Gewehrkolben hatten sich auch Soldaten den Weg durch Tausende von Flüchtlingen freigeboxt, um rechtzeitig zu entkommen. Als die Eroberer von den Taliban-Milizen endgültig in Kabul einzogen, stießen sie kaum noch auf Gegenwehr. Schon am Donnerstag waren Tausende mit ihrem Hab und Gut aus Kabul geflohen. Viele waren zum zweiten-, drittenmal auf der Flucht. Von den 1,2 Millionen, die zuletzt in der Hauptstadt lebten, stammte über die Hälfte aus den vom Krieg der Mudschaheddin verheerten Gebieten. Es flohen am Donnerstag auch viele Städter mit westlicher oder russischer Ausbildung, die den traditionellen Islam der Taliban ablehnen. Ihr Ziel: Jabal us-Sharaj, das Hauptquartier von Amin Schah Masud, dem Chef der meisten Truppen, die bisher Kabul verteidigten. Dort werden auch die bisherigen Regierungsmitglieder vermutet.

Noch haben die Taliban nicht ganz Afghanistan unter ihre Herrschaft gebracht. Die Region, auf die der jetzt geflohene Regierungschef Gulbuddin Hekmatyar sich bisher gestützt hatte, ist von ihnen in den vergangenen zwei Wochen überrannt worden. Die paschtunischen Stammesgebiete, die einst von traditionell-islamistischen Stammesführern beherrscht wurden, sind mittlerweile Taliban-Gebiet. Im tadschikisch besiedelten Norden, aus dem der geflohene Präsident Burhanuddin Rabbani stammt, haben sie sich bisher nicht gezeigt.

Der Warlord Achmed Schah Masud, lange Zeit Rabbanis engster Verbündeter, hält immer noch einige Provinzen bei Kabul. General Dostum beherrscht weite Teile des afghanischen Nordens - die meist von Usbeken besiedelten Regionen. Reisende hatten ihm wenigstens eins nachgerühmt: die Schaffung von Ruhe und Ordnung. Doch seine Frontwechsel, um der eigenen Macht willen, füllen ganze Chroniken. Die Taliban hatten den von ihm geschaffenen Quasi-Teilstaat bisher in Ruhe gelassen; dafür verweigerte sich Dostum jedem Hilferuf der Kabuler Regierung.

Die Taliban kontrollieren weite Teile der Provinz Kandahar im Süden bis nach Herat im Westen an der Grenze zu Iran. Sie streben aber offenkundig die Ausdehnung ihrer Macht auf das gesamte Staatsgebiet an. Sicher ist, daß ihr islamischer Fundamentalismus das öffentliche Leben nachhaltig prägen wird: Ihr Regime bedeutet für Frauen den Schleierzwang, und es wird keinen Schulunterricht für Mädchen geben. Außenpolitisch verfügen die Taliban offenbar über gute Beziehungen zu Pakistan, während ihr Verhältnis zum anderen großen Nachbarn, Iran, eher gespannt ist. Die Regierung in Islamabad hat allerdings stets bestritten, daß sie die Taliban-Milizen militärisch, logistisch oder finanziell unterstützt habe.