Afghanistan: Das afghanische Chaos

Frankfurter Rundschau, 14. August 1992
Afghanistans Hauptstadt Kabul ist in den vier Monaten seit ihrer Befreiung stärker zerstört worden als in den vierzehn Jahren der sowjetisch unterstützten Diktaturen. Die bis zum April dieses Jahres noch einigermaßen vereinten Mudjaheddin-Gruppen entwickeln im Kampf gegeneinander eine bösere destruktive Energie als von Ausnahmen abgesehen während des gesamten Kampfes, zu dem sie im Namen der Befreiung von den Ungläubigen angetreten waren.

Die Zersplitterung ist heillos. Von Verhandlungen kann nicht mehr die Rede sein, bekräftigt das Verteidigungsministerium, dessen Chef, Ahmed Schah Massud, der "Loewe vom Panjshir-Tal", einst sogar mit der sowjetischen Besatzungsmacht und mit den Vertretern der Kabuler Diktatur zeitweilige Waffenstillstände hatte vereinbaren können.

Der erbarmungslose Kampf scheint sich bei oberflächlicher Betrachtung zwischen Massuds Anhängern und denen des radikalen Islamisten Gulbuddin Hekmatyar abzuspielen. Gewiss geht es beiden um die Macht ohne Gegenmacht. Doch der Konflikt ist komplizierter. Er reicht von persönlichen Rivalitäten bis zu ethnischen, religiösen und sozialen Gegensätzen, die seit der Saur- Revolution vom 27. April 1978, seit der sowjetischen Weihnachts-Invasion von 1978 gewaltsam niedergehalten worden waren.

Träger jener Revolution waren Angehörige einer jungen Intelligenz, zum Teil Aufsteiger aus "den Dörfern" und den paschtunischen Stammesverbänden, die in der ersten Generation in der Stadt lebten; sie waren im großen ganzen in der Khalq- Fraktion der kommunistischen Bewegung organisiert. Andere, aus der schon generationenlang verstädterten tadschikischen Intelligenz hervorgegangene Reformer und Revolutionäre bildeten den Parcham- Flügel. Beide ergriffen gemeinsam die Macht; beide gingen gemeinsam unter.

Dazwischen lag ein Jahrzehnt erbitterten Cliquenkampfes, verwickelter Intrigen mit der sowjetischen Macht und allgemeinen Scheiterns am Volkswiderstand. Die sowjetische Niederlage am Hindukusch ist eins der vielen historischen Beispiele dafür, dass militärische Intervention unendlich mehr Probleme schafft als ihre Urheber zu lösen hoffen; dass sie Fronten und allgemeinen Widerstand erzeugt und letztlich diejenigen vernichtet, auf die sich die Interventen glauben stützen zu können. Mit ihnen geht dann auch die soziale Utopie unter, die jene einmal zum Handeln beflügelt hatte. Die Widersprüche im Lande bleiben ungelöst und werden zerstörerisch.

Doch auch die Einigkeit des Widerstands, ohnehin eine eher rhetorische als reale Groesse, konnte in Afghanistan nicht andauern. Den meisten jener Mudjaheddin-Führern, deren biographischer Hintergrund paschtunisch und deren religiöse Bindung islamisch ist, wollten wohl die zweihundertjährige paschtunische Herrschaft wieder errichten. Doch in diesem Ziel erschöpfte sich die Gemeinsamkeit. Stammes- Loyalitäten, sozialer Status und persönliche Abneigungen, verschiedenartige religiöse Denomination und einander durchkreuzende Verbindungen ins Ausland verknäulen sich. Auf den Zusammenbruch des gemeinsamen Gegners folgte Kampf aller gegen alle.

Zudem wurde der Sieg in Kabul erst möglich durch den Frontwechsel des usbekischen Landsknechtsführers Abdul Raschid Dostam, der der in Kabul herrschenden Watan-Partei die Gefolgschaft aufkündigte und sich mit der vorwiegend tadschikischen Jamiat-e Islami zusammentat. Erst diese Überläufer-Aktion eines typischen warlords verschaffte Ahmed Schah Massud das Übergewicht.

Die Übergangs-Präsidentschaft des Sufi-Gelehrten Sibghatullah Modjaddedi, eines Paschtunen aus reicher Familie mit starken Besitz-Interessen im schiitisch-mongolischen Hazara-Hochland und langer antikommunistischer Tradition, war der kleinste gemeinsame Nenner. Modjaddedi war ein Präsident ohne militärische und territoriale Hausmacht; deswegen war er Präsident geworden. In Kabul aber setzte sich, auf Massud und die ihm unbequem werdenden Dostam-Horden gestützt, der Theologe Burhanuddin Rabbani durch; ein Mann mit engen Beziehungen zur Islam-Bruderschaft wie der Radikale Hekmatyar, aber im Gegensatz zu ihm Tadschike und seit 1974 sein geschworener Feind. Seine Macht ist abhängig von regionalen Kriegsherren, die im wesentlichen die Gegnerschaft gegen Hekmatyar und in vielen Fällen der Widerstand gegen die alte paschtunische Herrscherschicht einigt.

Hekmatyar seinerseits, das frühere Ziehkind Pakistans und der USA, nutzt den paschtunischen Patriotismus für seine Zwecke. Aber auch dieser hat seine Grenzen; denn andere paschtunische warlords machen ihm genau diesen Patriotismus streitig. Nach alledem ist das frühere Gleichgewicht der vielen Völker und unzähligen Stämme, der definierten sozialen Rollen und religiösen Zuordnungen nicht mehr herstellbar. Was Afghanistan war, kann so nicht wieder erstehen. Die Brücken in eine friedliche Zukunft aber sind durch die Interventen auch "westliche" gesprengt worden, die Waffen genug im Lande hinterlassen haben, um das Chaos dauerhaft zu machen.