Afghanistan: Tragödie

Frankfurter Rundschau, 17. Mai 1988
Die ersten tausend Sowjetsoldaten haben ihre afghanischen Stellungen unter gehöriger öffentlicher Inszenierung geräumt, Dank von Präsident Nadjibullah eingeheimst und ein internationales Übereinkommen einzulösen begonnen. Die islamischen Widerstandsorganisationen rücken rasch nach, haben nach eigenem Bekunden schon die ganze Provinz Kandahar mit Ausnahme der Hauptstadt erobert und verlegen ihre Arsenale ins Landesinnere. Den militärischen Sieg, urteilte die Moskauer "Prawda" zutreffend, hat das "begrenzte Kontingent" der 115.000 nicht errungen.

Aber hat das afghanische Volk gesiegt? Hat es wenigstens die Vorstufe zum Sieg erreicht? Auch das ist fraglich. Das Regime in Kabul kämpft um seine Fortexistenz. Nadjibullah ist um ein frommes Ansehen jederzeit bemüht, in diesem Bemühen aber so unglaubwürdig wie nur irgendeiner mit geheimdienstlichem Hintergrund. Seiner Politik der "Nationalen Aussöhnung" kann man nach der gegenwärtigen Sachlage keinen Erfolg voraussagen. Fakten hat sein Regime, wie die seiner Vorgänger, freilich geschaffen. Fraglich ist, ob sie standhalten.

Die Ernüchterung über die "Aussöhnung" - wenn sie überhaupt einen Begeisterungsrausch ausgelöst haben sollte - wird nicht ausbleiben; die Exilführer haben sie ebenfalls noch vor sich. Sie meinen, in das Afghanistan vor der Saur-Revolution von 1978 zurückkehren, ans Alte anknüpfen zu können, und werden bald begreifen müssen, daß es nicht mehr existiert. Die vielschichtigen Sozialbeziehungen auf den Dörfern - in denen die Kabuler Herrschaftspartei kaum hat Fuß fassen können - sind nachhaltig durcheinandergebracht, ohne daß tragfähiges Neues entstanden wäre. Nadjibullahs Kehrtwende - Verzicht auf Bodenreform, Anbiederung an die örtlichen Mullahs durch staatliche Gehälter - wird allenfalls belächelt. Doch es ist im Widerstand auch ein neues Selbstbewußtsein gewachsen. Die Rechtgläubigen kehren aus dem Exil als Halbfremde zurück, und falls sie nun alte Boden- und Wasserrechte für sich nutzen wollen überall dort, wo der Arm der Kabuler Armee und des Geheimdienstes Khad mit seinen Verbänden nicht hinreicht, wird aus der halben Fremde ganze Gegnerschaft werden.

Kabuler Hoffnungen, daraus Kapital zu schlagen, sind indes wohl illusionär. Die neuen Fronten sind nicht die alten; die Diktatur vergißt man ebensowenig wie die kommende Enttäuschung über diejenigen, die als Befreier kommen wollen und doch oft nur Träger der Vergangenheit sind.

Die neuen Konflikte ließen sich mit politischen Mitteln ausfechten - wenn Einigung über die Mittel bestünde. Sie besteht nicht, da Afghanistan auch ohne Sowjettruppen ein Puzzle verschiedener Gesellschaften und Wertsysteme sein wird, anders als vor 1978, unlösbarer vielleicht. Vorderhand scheinen Wege zur Modernisierung ebensowenig beschreitbar wie die Wege der Gestrigen, ob aus Kabul oder Peschawar oder dem iranischen Meschhed. Die Tragödie Afghanistans wird weiter gespielt. Es sind nur Darsteller aus den vorherigen Akten und Szenen mit Aplomb abgetreten.