Afghanistan: Kabul ohne Nibelungen

Frankfurter Rundschau, 8. April 1988
Der Krieg in Afghanistan kann in einem Jahr beendet sein. Doch Frieden muß darum nicht herrschen. Auch nach dem sowjetischen Abzug werden noch sowjetische Waffen nach Kabul geliefert werden, und die Annahme, die Widerstandsorganisationen würden ihren Kampf klaglos aufgeben, ist schiere Illusion. Auch eine gemeinsame Garantie der afghanischen Neutralität, wie immer sie definiert werden wird, kann das nicht verhindern. Die Unbeugsamkeit des Siebener-Bündnisses von Peschawar ist bekannt, und allein die Tatsache, daß der radikalste Vertreter des islamischen Flügels, Gulbuddin Hekmatyar, gegenwärtig den Vorsitz in dieser Gruppe führt, ist geeignet, Kinderträume vom Paradies am Hindukusch jäh zu zerstören. Zudem hat der Moskauer Parteichef, Michail Gorbatschow, seinem mutmaßlichen Kabuler Vasallen Nadjibullah erst noch einmal die Instrumente zeigen müssen. Auf das Zureden von Außenminister Eduard Schewardnadse allein hat sich der afghanische Parteichef offenbar nicht eingelassen. Er mag auch für bare Münze genommen haben, was Schewardnadse einige Tage vor Ostern der bulgarischen Parteizeitung "Rabotnitschesko Delo" erzählte: Die Aussicht auf US-Waffenlieferungen an die Mudjahedin sei unzumutbar; die Mudjahedin seien nichts als eine hergelaufene "Gruppierung, die einen bewaffneten Kampf gegen die legitime Regierung des Landes führt", und ganz und gar nicht mit der Kabuler Regierung gleichzusetzen; die pakistanische Regierung solle sich nicht täuschen - Afghanistan könne ja noch einmal das Grenzproblem aufs Tapet bringen.

Besonders dieses letzte Argument ließ aufhorchen. Die "Durand-Linie", die 1893 zwischen dem unabhängigen Afghanistan und Britisch-Indien gezogen wurde, war ein Produkt des britischen Imperialismus. Sie teilte das von Paschtunen (im Westen besser als Pathanen bekannt) bewohnte Gebiet in eine afghanische und eine britische Hälfte. Pakistan hat sie 1947 geerbt. In Kabul ist sie nie ganz widerspruchslos hingenommen worden, allenfalls aus Einsicht in bestehende Machtverhältnisse. "Paschtunistan", die Parole von der Wiedervereinigung aller paschtunischen Länder, ist ein altes Druckmittel afghanischer Politik. Wollte Schewardnadse, und damit zweifellos die Sowjetregierung, damit dem Regime von Islamabad die Daumenschrauben anlegen - und indirekt auch den USA?

Es scheint so; denn der sowjetische Außenminister sprach auch davon, den "Genfer Prozeß", der zu einer Lösung für Afghanistan führen soll, "auch ohne amerikanische Garantien" abzuschließen. Das hätte Pakistan in einen vertragslosen Zustand geschoben. Dabei ist die Anwesenheit eines Viertels der afghanischen Bevölkerung in den Flüchtlingslagern des Nordwestens schon eine erhebliche Last für dieses arme Entwicklungsland. Außerdem strahlt die islamische Radikalisierung der Mudjahedin stärker auf Pakistan aus, als es dem - überzeugt islamischen - Präsidenten Zia-ul Haq und seiner Regierung lieb sein kann.

Doch dann bedurfte es des Eingreifens Gorbatschows, um Nadjibullah einzutrichtern, daß er sich keine besonderen Hoffnungen auf einen einseitig sowjetisch garantierten Satellitenstatus machen durfte. Er mußte begreifen lernen, daß die rund 115.000 Sowjetsoldaten Mitte Mai ihren Abzug beginnen. Danach gilt, was Gorbatschow ihm schon im November in Moskau klargemacht hatte: Wenn es eine afghanische Revolution geben soll, dann müssen die afghanischen Genossen sie gefälligst selber verteidigen. Sie dürfen, wie seit 1921, Schießzeug in der UdSSR kaufen; auf Soldaten haben sie keinen Anspruch.

Damit liquidiert die Sowjetführung ihren afghanischen Krieg. Sie beginnt damit zwei Wochen vor der Anreise des noch amtierenden US-Präsidenten Ronald Reagan zum Moskauer Gipfeltreffen. Auch dieses Signal ist wichtig; denn angesichts der fortgesetzten US-Waffen-hilfe für den afghanischen Widerstand hatten die Planer im Kreml sich des Eindrucks nicht erwehren können, sie seien irgendwie über den Tisch gezogen worden. Sie hinterlassen dennoch in Afghanistan einen fortdauernden Bürgerkrieg, ohne daß daran weitere Einigungen mit den USA scheitern sollen.

Eine Sensation - oder eigentlich doch keine. Hatte nicht die UdSSR unter einem noch dynamischen, handlungsfähigen Leonid Breschnew die ersten Rüstungsbegrenzungsabkommen mit den USA des Richard Nixon getroffen, als dessen Luftwaffe drauf und dran war, Nordvietnam "in die Steinzeit zu bombardieren"? Um globaler Interessen willen darf man das Wort "Bündnistreue" getrost mit kleinem Anfangsbuchstaben schreiben. Zu Nibelungentreue bis zum Untergang sieht sich eine Supermacht ohnehin nicht veranlaßt.