Afghanistan: "Die Araber haben Öl entdeckt und wir die Afghanen"

Im Basar der Geschichtenerzähler in der pakistanischen Stadt Peschawar werden viele Nachrichten geboren

Frankfurter Rundschau, 8. März 1988
Mühsam erhebt der Mann sich unter der Last von Brennholz. Die Knüppel und Stämme, Zweige und Äste sind zu einem mannshohen und zwei Mann breiten Pack zusammengebunden. Mit langen Schritten schreitet der Pathane den Zelten entgegen. Das Lager Kazakhel ist ein paar hundert Meter von der Straße entfernt. Hier haben sich seit fünf Monaten Flüchtlinge aus Afghanistan niedergelassen, und jeder fremde Besucher, der etwas auf sich hält und Afghanistan wenigstens aus zweiter Hand kennenlernen will, schaut mal in Kazakhel vorbei.

Die Antworten des Sprechers der Gruppe aus dem Ahmadzai-Stamm, Jumagul, klingen routiniert. Er versammelt mit gutem Blick für die Schau Jüngere und Ältere um sich, weist mit seiner Autorität den einen an den Rand holt den anderen näher zu sich heran: Zeig mal die Wunden, die die Kommunisten dir beigefügt haben. Und folgsam entblößt ein Zwanzigjähriger seinen Oberkörper - die Gewehrkugel hat ihn unterhalb des Schlüsselbeins erwischt und ist am Rücken wieder herausgekommen. Die Narbe gibt ihm das Recht, bei den Alten mitzusprechen.

"Ich kämpfe in Durbandi, in der Provinz Lugar, gegen die afghanische Armee", sagt er; das war noch vor der Invasion der Sowjettruppen. "Als ich auf die Feinde schoß, kam ein Flugzeug und feuerte, und eine der Kugeln schlug durch meine Brust hindurch." Ringsum schlugen noch ein paar Geschosse ein. Das hat ihn erst richtig wütend gemacht, seitdem kämpft er erst recht gegen die Kommunisten.

Stammessprecher Jumagul winkt noch ein paar Mujahedin, Freiheitskämpfer, herbei. Aber sie haben traurige Kunde zu melden: sie müssen untätig hier herumsitzen, waffenlos (weil die pakistanische Regierung ihnen Gastrecht nur unter der Bedingung der Waffenlosigkeit gewährt) und ohne Perspektive. "Wenn wir schwere Waffen hätten, mit denen wir gegen Panzer und Flugzeuge kämpfen können, dann wäre Afghanistan bald befreit", findet Jumagul.

Hilfe für Erziehung, medizinische Versorgung, Ernährung? "Wir bekommen schon Hilfe, die pakistanische Regierung vermittelt sie aus dem Ausland. Und wenn wir erst einmal unsere Regierung im eigenen Land etabliert haben werden, dann werden wir auch Wirtschaftshilfe, Erziehungs- und Ausbildungshilfe und, äh, Doktoren brauchen, würden sie auch sehr begrüßen. Aber erstmal haben wir mit unserem Hauptproblem zu tun: Wie kämpfen wir gegen die Russen? Wie befreien wir unser Land?"

Die zehn- bis zwölfjährigen Jungen, die sich um den Besuch gedrängt hatten, hören die letzten Worte Jumaguls schon nicht mehr. Als der Dolmetscher Worte wie "Erziehung" und "Schule" zu übersetzen begann, machten sie sich rasch aus dem Staub. Das kann man wörtlich nehmen; denn die Füße der Umstehenden wirbeln mit jeder Bewegung weißen Sand auf, der in langen Fahnen durchs Gelände zieht, dem Lastträger nach, der mit seinem Pack aus Holz und Reisig nun die Zelte erreicht.

Jumagul zeigt unterdessen ein paar sorgfältig geputzte Patronenhülsen vor, sie haben russische Buchstaben in der Bodenprägung; wenn das kein Beweis ist! Wir wollen von ihm wissen, wer denn den Kampf führen soll. Welche Partei, welche Gruppe. Das müssen sie erst einmal unter sich beraten, doch dann kommt es klar heraus: "Wir hätten nichts gegen König Zahir Schah, der würde vom ganzen afghanischen Volk akzeptiert". Aber diese politischen Gruppen da, die seien doch untereinander nicht einig, und daß sie da hinten in der Etappe in Peschawar gewiß nicht kämpfen, das ist doch wohl klar.

Ein Lager weiter, in Jamrud, verstehen die Alten die Königsfrage gar nicht. Wieso denn ein Führer? Es ist doch klar, daß jeder Stamm, also wirklich jeder einzelne, gegen die Invasoren kämpft? In Jamrud freilich lassen sich nicht so viele "faranghi" sehen, die immer nach dem fragen, was sie für wichtig halten. Ihnen hier geht es um die Befreiung. Von den Parteien haben sie noch nichts hier gesehen, kein Chef ist jemals bei ihnen gewesen, und sie sind doch schon fastvier Monate im Exil. In der Provinz Lugar, im Gebiet Durbandl, sind sie zu Hause - wie die Leute aus Kazakhel. Aber mit denen reden sie nicht. Ein paar Mitglieder ihres Stammes, sagen sie, kämpfen da noch. Waffen können sie brauchen, die Pakistanis erlauben ihnen hier nicht, Sie zu tragen.

Schon Nur Mohammed Tarakki' der Vorgänger Hafizullah Amins, den nun Babrak Karmal abgelöst hat, sei mit sowjetischer Hilfe eingesetzt worden, sagt Tazagul Durbandi. Wie lange sie schon kämpfen, sagt er nicht; aber sie kämpfen immer noch weiter, die jungen Männer, und die im Kampf stehen, sagen ihnen auch, wie es steht, gestern erst wieder sind vierzehn afghanische Soldaten zu ihnen übergelaufen, in Schamsadara war es. Und in Kabul sei Genera1streik' es habe in den fünf Tagen seit seinem Beginn schon fünftausend Tote gegeben, weil die Sowjets immer in die Menge hineinfeuerten.

"Er hat wohl fünfhundert gemeint, das ist realistisch", kommentiert später ein pakistanischer Journalist in Rawalpindi. "Fünftausend - da sind dann aber auch alle Leichtverwundeten mitgezählt. Schauen Sie, da hieß es, in Jallalabad sei die Straße von Mujahedin blockiert, aber unser Botschafter ist an eben diesem Tage mit dem Wagen durchgefahren und wurde nicht ein einziges Mal angehalten." Und er selber sei einige Male "da oben" gewesen. Nichts stimme, was in den westlichen Agenturen berichtet wird. "Die meisten Geschichten entstehen in Peschawar, in Pakistan, auf dem Basar."

Freilich sitzen viele Korrespondenten in Peschawar, es ist ja die heimliche Hauptstadt des Widerstandes. "Und da winkt man sich mal eben so einen Pathanen heran", sagt der pakistanische Kollege, "der erzählt dann freiwillig für ein Informationshonorar, und die Agentur hat wieder ein paar Tote mehr zu melden. Wissen Sie übrigens, wie der Basar heißt?" Der Basar von Peschawar heißt Kissa Khawani Bazar, Markt der Geschichtenerzähler.

"Oben", 57 Kilometer weiter, am Khyberpaß, ist alles ruhig, müßte an diesem Tag die wahre Geschichte heißen. Wir sehen insgesamt einen einzigen afghanischen Soldaten herumstehen, er ist unbewaffnet und schaut gelangweilt dem nie abreißenden Strom der Pendler zu. Ich mustere eine Gruppe Frauen mittleren Alters, die eben aus dem besetzten Afghanistan herüberkommen. Als sie nach einer knappen halben Stunde zurückschlendern, haben sie kleine Rucksäcke bei sich, und eine, die vorhin im sechsten Monat schien, steht nun anscheinend unmittelbar vor der Niederkunft. "Die schmuggeln Getreide rüber, sie bekommen es hier zu subventionierten Preisen, das erspart ihnen die Hälfte oder drei Viertel der Kosten", erfahren wir.

Drei Lastwagen haben den Weg nach drüben gefunden, ohne daß sich der dünne Schlagbaum auch nur zum Gruß gesenkt hätte. Mit funkelnagelneuen Reifen kommen sie aus Dakka zurück, um die zwanzig Kilometer weit im afghanischen Hinterland. "Da drüben sind die Lastwagenreifen billiger", weiß mein Gewährsmann. Und eine Mitfahrerzentrale muß es wohl auch geben: Als der letzte Lastwagen vor dem Milizgebäude auf pakistanischer Seite hält, springen ungefähr ein Dutzend junge Leute herab, schlendern zum Dorf hinüber - und wandern mit Rucksäcken, offenbar voll Getreide, alsbald munter nach Afghanistan zurück.

Einmal kommt freilich Militärisches in die Atmosphäre. Ein Jeep bremst, einen Meter vor dem Schlagbaum, ein Uniformträger hüpft heraus - alles geschieht auf pakistanischer Seite -, es gellen einsilbige Kommandos, tatsächlich, die Milizionäre, die eben noch die Marmorstufen ihrer Wachstube geschruppt haben, präsentieren das Gewehr. Der Kommandant ist gekommen und wird begrüßt. Danach schlummert alles weiter an der ruhigsten und friedlichsten Grenze, die ich je gesehen habe.

Allerdings muß das knallrote Schild mit der weißen Schrift noch erwähnt werden, das am Anfang von Afghanistan steht. In mehreren Zeilen enthält es arabische weiße Zeichen. Was heißt das, will ich wissen, und schreibe in Gedanken schon eine reißerische politische Parole mit. "Das heißt: Rechts fahren. In drei Sprachen. Urdu, Puschtu und Dan."

Später, in Rawalpindi, grinst ein pakistanischer Kollege über solch kriegerische Erlebnisse. Aber er warnt auch, er, der Skeptiker. "Die Probleme kommen noch. Wir wissen, daß es nach der Scheeschmelze erst richtig losgehen wird. Eine Million Flüchtlinge, anderthalb Millionen - sobald die Kämpfe im Lande richtig anfangen, werden sie kommen. Im Augenblick ist da nicht viel zu sehen. Sie müßten schon in die entlegeneren Dörfer gehen, nach Waziristan oder Nuristan oder Chitral. Da kommt nicht einmal die bisherige Hilfe an. Und da werden sie sich im April drängen."

Pakistan zahlt die Flüchtlinge erst einmal aus. Als wir in Kazakhel aus dem Wagen kletterten, lag rein zufällig ein Stapel mit Medikamenten vom "Pakistanischen Roten Halbmond" (so heißt das Rote Kreuz auf islamisch) herum, er wurde rasch weggetragen. Aber die Last, die Pakistan tragen muß, wenn wirklich einmal jeder zehnte Afghane im Lande sein wird, auf der Flucht vor dem Karmal-Regime, die wird für das Asyl-Land zu groß werden. Es braucht Hilfe. "Das hat auch seine gute Seite für uns", sagt der zynische Kollege aus Rawalpindi. "Nun werden wir beachtet. Nun rollt das Geld. Die Araber haben Öl gefunden - und wir haben Afghanistan entdeckt."