Afghanistan: ohne Hoffnung

Frankfurter Rundschau, 22. Dezember 1984
Vor fünf Jahren startete die Sowjetunion Ihre brüderliche Weihnachtsaktion in Afghanistan. Sie ließ die Hauptstadt Kabul besetzen, den Diktator Hafizullah Amin liquidieren, den in Taschkent bereitstehenden Nachfolger Babrak Karmal den erforderlichen Hilferuf artikulieren und die eigenen Truppen marschieren, von den turkestanischen Grenzen bis nahe an den Khyberpaß. Daraus ist der längste Landkrieg geworden, den die Erben des Antiimperialisten Lenin zum Zwecke der Eroberung jenseits der eigenen Grenzen in Asien führen. Es scheint auch nach fünf Jahren nichts darauf hinzudeuten, daß sie ihn gewinnen - oder anders beenden.

Die täglichen militärischen Bulletins aus Kabul lesen sich wie Berichte über Schläge ins Leere, und selbst mit Aufwand verkündete Siegesmeldungen wie nach bisher sieben - sämtlich "siegreichen" - Offensiven im Panschir-Tal sind Wochen darauf Makulatur. Der Widerstand in Afghanistan lebt weiter und kämpft weiter, so zerrissen und verfeindet seine Exilführer in Peschawar und Mesched auch sein mögen. Und die Rückwirkungen auf die allmählich selbstbewußter gewordenen Sowjetvölker in Mittelasien hat die Sowjetunion noch längst nicht verdaut.

Das Karmal-Regime in Kabul hat es kaum geschafft, eine zuverlässige Herrschaft auch nur in der Hauptstadt Kabul selbst und in einigen großen Städten aufzubauen. Die Verankerung im Volk ist der Parcham-Fraktion ebensowenig gelungen wie der Chalk-Fraktion vorher; beide, die eine mit eher ländlich-intellektuellem, die andere mit mehr städtischem Hintergrund, sind von den Völkern, Stämmen und Clans Aghanistans weiter entfernt denn je. Militäraktionen, die gelegentlich im fünften Kriegsjahr Züge von Massenterror und verbrannter Erde angenommen haben, brachten nur eine unwahrscheinliche Renaissance des islamischen Fundamentalismus und der traditionellen feudalistischen Abhängigkeiten mit sich: In den Augen der Bauern und der Nomaden ist der Fremdherrscher der erste Feind.

Dies heißt nicht, daß die Sowjetarmee den Krieg nicht doch gewinnen könnte; sie müßte dann freilich die restlichen zwei Drittel des afghanischen Volkes, abzüglich eines Regiments von Kollaborateuren, aus dem Land jagen. Das schein-linke Argument, sie verteidige am Khyberpaß den Sozialismus, fällt in sich zusammen - es sei denn, man bezeichnete ein Regime ohne Volk als ein sozialistisches.

Nun ist aber auch der Widerstand nicht einiger geworden. Die verschiedenen Fraktionen, deren Hauptquartiere im sicheren Ausland sitzen, sind mit Intrigen gegeneinander und wechselnden Bündnissen beschäftigt, und gewissen Exilgruppen entschlüpft allmählich auch der traditionelle eigene Anhang im Lande. Sie mögen noch die Lager von vier Millionen Flüchtlingen in den Händen haben, soweit ihre faktische Kontrolle reicht. Die im Partisanenkrieg entscheidenden Widerstandsaktionen aber entwickeln sich auf regionaler Ebene um Lokalführer wie Massud Achmed Schah in Panschir, die gewiß noch nicht nationale Figuren geworden sind, aber in ihren Regionen beherrschende Persönlichkeiten.

Eine militärische Lösung des Konflikts ist nach alledem noch immer ausgeschlossen. An politischer Lösung wiederum sind die entscheidenden Kräfte nur mäßig interessiert. Die UdSSR wird sicherlich nicht dulden, daß an ihrer südlichen Grenze ein feindliches Regime entsteht; aber nach dem letzten Fiasko mit Babrak Karmal, der den Geruch des Kollaborateurs nie loswird. ist da keine freundliche, wenn auch nur neutralistische, Kraft mehr in Sicht. Die beiden Flügel der "Demokratischen Volkspartei" sind federnlos, die übrige Linke -zähneknirschend ob der ungewollten reaktionären Freunde - im Widerstand. Für die Moskauer Führung gibt es keinen Partner einer politischen Lösung.

Solange aber die UdSSR in der Klemme sitzt, kann dies den Amerikanern nur recht sein; wie es den Sowjets nur recht war, als die USA sich in Vietnam festgerannt hatten. Kein Eigeninteresse gebietet ihnen, dem Moskauer Supermacht-Rivalen bei der Auswegsuche Pfadfinderdienste zu leisten. Auch von dort ist nichts zu erwarten.

Grenzland-Diktator Zia-ul Haq in Pakistan, der einst sogar bei Jurij Andropow in Moskau vorsprach, möchte sicherlich die Flüchtlinge loswerden; aber er möchte auch die solidarische Unterstützung des sogenannten Westens behalten, und die wäre angesichts der politischen Zustände in Pakistan längst fraglich geworden - wäre da nicht Afghanistan. Mit diesem Pfund wuchert der Militärdiktator, der sich neuerlich gebärdet, als hätte er den Islam selber erfunden, nicht ungeschickt. Aber Interesse an einer politischen Lösung ist eine ganz andere Sache.

Wohl, es gibt moralische Instanzen in der Welt; doch die, ob UN, ob die verschiedenen islamischen Dachorganisationen, ob gutmeinende Intellektuelle, haben allesamt nicht das Gewicht, das hinter Friedensappellen zu spüren sein müßte. Solange es der internationalen Gilde der Polit-Macher ins Konzept paßt, daß in Afghanistan geschossen und gestorben wird, solange andererseits der Konflikt klein genug bleibt, um einen Supermacht-Dialog nicht zu gefährden, ist da wohl wenig Hoffnung. Die Kosten tragen die afghanischen Bauern und Nomaden, deren Äcker verbrannt, deren Herden vernichtet werden; die zufällig in die Kampfzonen Geratenden, denen eine technisierte Armee Napalm auf die Köpfe wirft; die Flüchtlinge in den Lagern, denen eine Heimkehr unmöglich bleibt. Und letztlich blutet in diesem Krieg die Idee von jenem proletarischen Internationalismus aus, auf den sich, trotz allem, viele Linke noch immer glaubten berufen zu können. Doch dies kümmert die Sowjetführer seit Jahrzehnten nicht mehr. Sie haben, seit Stalin, immer nur Machtpolitik betrieben.