Afghanistan: Brüderliche Hilfe

Frankfurter Rundschau, 29. Dezember 1979
Die brüderliche Hilfe der Sowjetunion ist wieder einmal einem kleinen Nachbarland zuteil geworden - nach Prag 1968 nun Kabul in den letzten Tagen des Jahres 1979. In der ersten Verlautbarung der neuen afghanischen Machthaber ist die Rede davon, daß "das Banner der Revolution von 1978" nun wieder aufgepflanzt sei. Übrigens ist der bisherige Präsident Hafizullah Amin umgehend hingerichtet worden, und das hat es in der CSSR denn doch nicht gegeben. Zur gleichen Stunde schlüpfte dem Sowjetbotschafter in Indien, Juni Woronzow, der begütigende Satz über die Lippen, "auf Einladung der afghanischen Behörden" habe die Sowjetunion "ein kleines Truppenkontingent nach Afghanistan geschickt".

Wer hat denn da um Hilfe gerufen? Eine Behauptung dieser Art hat man 1968 auch gehört. Den hilfesuchenden tschechoslowakischen Genossen haben die sicher nicht unerfahrenen sowjetischen Helfer bis heute jedoch nicht auffinden können. War es diesmal Babrak Karmal? Wo hat er "um Hilfe gerufen" - etwa in der UdSSR? Seine erste Verlautbarung war über die gewiß unverdächtigen Medien TASS und Radio Taschkent zu hören. Zufällig ist das eine, mit vollem Namen ,,Telegrafitschnoje Agentstwo Sowjetskogo Sojusa", die amtliche sowjetische Nachrichtenagentur, und das andere ist der Sender der Usbekischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Während der afghanische Rundfunk noch sein übliches Programm abspulte, meldete Radio Duschanbe schon die Revolution von Kabul. Auch Radio Duschanbe ist ein sowjetischer Sender.

Es ist also ein durchsichtiges, dumm-dreistes Verschleierungsmanöver, von einer Volkserhebung gegen Hafizullah Amins gewiß unpopuläres Regime zu reden, die ausgerechnet den Chef der "Parcham"-Partei, Karmal, an die Macht gebracht hätte. Es gibt zwar seit jener Revolution von 1978 Volkserhebungen. Sie beherrschen weite Teile Afghanistans. Doch sie haben mit sowjetischer brüderlicher Hilfe wenig im Sinn. Sie sind islamisch motiviert, zum Teil durch die islamische Revolution im Nachbarland Iran angeregt, zum Teil aus dem Widerstand der ehemals Besitzenden gegen Bodenreformen und Sozialreformen hervorgegangen und ganz überwiegend religiös und nationalistisch.

Eben diese uneinheitliche Volksbewegung ist für die Sowjetunion offensichtlich ein Grund zur militärischen Besetzung der Hauptstadt Kabul und zum unerklärten Krieg gegen Afghanistan geworden. Die religiöse Erweckungsbewegung hat die großen islamischen Minderheiten in den zentralasiatischen Sowjetrepubliken zwar noch nicht erschüttert; doch sie hat schon Eindruck gemacht. Der Nationalismus der Usbeken, Tadschiken und der anderen turkestanischen Völker ist längst sprichwörtlich.

Die Sowjetführung vermutet sicherlich die Hand des US-Geheimdienstes CIA dahinter. Sie sieht vielleicht auch Ayatollah Ruhollah Khomeinys islamische Revolutionsgarden heimlich am Werk. Andeutungen dieser Art haben übrigens auch die afghanischen Machthaber aus der nun gestürzten Khalq-Partei immer wieder gemacht. Sie haben den aus Iran heimgekehrten fast 400 000 Gastarbeitern mißtraut, wie sie dem ganzen Volk mißtraut haben. Und prompt spricht ein hoher Sowjetdiplomat von der Gefahr ausländischer Einmischung.

Einmischung in wessen Angelegenheiten? Hat das afghanische Volk sich in seine Angelegenheiten eingemischt? Hat es den auch schon von sowjetischen Gnaden amtierenden Präsidenten Amin nicht genug geliebt? Hat es sich den zeitweise fast kambodschanisch anmutenden Rigorismus der Khalq-Diktatur nicht ausreichend zu eigen gemacht? War es, nicht begeistert genug darüber, daß in den wenigen Monaten Amin-Regierung an die 50000 Menschen politischer Verfolgung zum Opfer gefallen sind?

Von Einmischung der Nachbarn zu reden ist absurdes Ammenmärchen. Wenn sich jemand einmischt, dann die UdSSR, und dies seit 1973, wenn nicht länger. Dafür eine moralische oder juristische Rechtfertigung zu finden, heißt allerdings erhebliche Zweifel an den weltpolitischen Absichten der Sowjetführung zu begründen. Sie hat aus den eigenen Erfahrungen nach dem 13. August 1968 in der CSSR und aus den amerikanischen Erfahrungen in Vietnam offenbar nichts gelernt. Sie ist der Versuchung anheimgefallen, sich eine strategisch interessante Nachbarrepublik ans liebende Herz zu ziehen, während alle Welt sich besorgt zeigt über das Schicksal der amerikanischen Geiseln in Teheran und militärische Interventionen der USA dort befürchtet.

Vielleicht ist die Parallele mit Prag gar nicht der beste Vergleich. Man kann auch an Budapest 1956 denken. Als die Westmächte Großbritannien und Frankreich ihr letztes größeres imperialistisches Abenteuer im Nahen Osten starteten und Israel in den Krieg mit Ägypten hetzten, hatte die Sowjetunion die Hände frei, dem ungarischen Volksaufstand den Garaus zu machen. Damals regierte der Zyniker Chruschtschow in Moskau. Und damals ging es um den Alleinvertretungsanspruch der KPdSU, die als einzige den sozialistischen Weg richtig zu weisen wußte.

An dieser Prämisse hat sich, scheint's, nicht viel geändert. Neu ist nur, daß die UdSSR jetzt über den Rahmen des eigenen Paktsystems hinausgreift. Das kann gefährliche Folgen für die Weltpolitik der achtziger Jahre haben. Daß, beiläufig, die Bereitschaft des US-Senats, das SALT-II-Abkommen zu ratifizieren, nun nennenswert gesteigert worden wäre, mag man wohl nicht behaupten. Es ist wahrscheinlicher, daß die Aggression in Kabul eine neue Ära des kalten Krieges eingeleitet hat.