Afghanistan: Nach den Taliban

Frankfurter Rundschau, 22. November 2001
Der afghanische Friede soll von Berlin ausgehen. Die Wahl des Tagungsortes gilt manchen deutschen Diplomaten schon als Glanzstück ihres Berufs. Das wird sich zeigen. Es gibt wenig Anlass, aus der immerhin vorhandenen Hoffnung voranzuschreiten in den Zustand der Freudetrunkenheit. Die Macht der Taliban ist gebrochen, teils so wirksam aus der Luft weggebombt, wie Skeptiker und auch Realisten es nicht erwartet hatten, teils auch zusammengebrochen aus Mangel an einer anderen Substanz als jener, die man aus der Kalaschnikow verschießen kann. Die letzte Ursache ihres raschen Untergangs aber ist der Bin-Laden-Faktor. Ohne die kriminellen Terrorakte am 11. September wäre die Bush-Macht kaum gegen sie tätig geworden. Es gab - und gibt - Interessen; man nennt sie Geostrategie. Dahinter steckt mehr.

Diesen Interessen und ihren lokalen Vollstreckern ist Afghanistan im vergangenen Vierteljahrhundert mehrere Male zum Opfer gefallen. Die Sowjetmacht suchte einen freundlichen, neutralen Nachbarstaat ganz ins "Lager" zu ziehen; die auf Modernisierung bedachte linke städtische Elite war aber so fremd in den Dörfern des eigenen Landes, dass schon der Versuch Widerstand erzeugte, verstärkt noch nach der Invasion aus dem Norden.

Ein Stellvertreterkrieg wurde daraus. Politisch annähernd so sehbehindert wie die Moskauer Führung, bewaffnete und motivierte Washington, was sich eben bewaffnen und motivieren ließ - zu einem erheblichen Anteil rückwärts gewandte Würdenträger, Warlords und zuletzt, nach dem Scheitern der ersten Mudschaheddin-Generation, die auf einfachste Art glaubensstarke, politisch aber einzigartig bewusstlose Gruppe der Taliban. Der Stellvertreterkrieg war mit dem Zerfall der UdSSR beendet; nun ging es auch um den Transportweg für turkmenisches Erdgas und kasachisches Erdöl zum Weltmeer.

Da gab es Staat und Gesellschaft nicht mehr in Afghanistan. Das war den Völkern gestohlen worden von Warlords und Drogen-Großhändlern, Terroristen, Missionaren und Handlangern einiger Nachbarstaaten. Eine Generation ist mit der Erfahrung aufgewachsen, dass man am besten dem Nachbarn mit dem Schießprügel gehorcht, solange man selbst unbewaffnet ist. Der Begriff "Gesellschaft" reduziert sich für sie auf die Loyalität zur gerüsteten Ortsgewalt; der Begriff "Zivilgesellschaft" gar ist ihnen völlig fremd. Wie darauf aufbauen? Die Berliner Konferenz soll, wohl am Montag, die Vertreter der ethnischen Gruppen zusammenführen und, wenn alles glückt, eine Übergangsregierung vorbereiten.

Das kann dann zunächst nur eine von alten und neuen Widersprüchen zerrissene Koalition eben jener ungewählten Stammesführer und Lokalmatadoren sein. Deren Legitimation kommt aus den Gewehrläufen und wird allenfalls - dies ist Widerspruch in sich - von der Friedenssehnsucht der verelendeten und entrechteten Mehrheit gestützt. Eine Repräsentation der Paschtunen, der Usbeken, der Tadschiken, der Hasara und der vielen anderen Völker ist dies nicht. Es ist eine Versammlung von Machthabern, welche die verschiedenen Völker für sich instrumentalisieren, aber nicht prinzipiell an ihnen interessiert sind, sondern an der Macht. Diese Gruppenvertreter wenigstens zusammengebracht zu haben, ist dennoch eine diplomatische Leistung. Die UN-Beauftragten Lakhdar Brahimi und Francesc Vendrell haben damit fürs Erste verhindert, dass die Entscheidungen in Kabul noch einmal auf derart zerstörerische Weise ausgeschossen werden wie 1992 nach dem russischen Rückzug. Darin ist jedoch keine Garantie gegen eine Wiederholung enthalten. Konfliktstoff birgt ganz besonders die Frage, wer die Paschtunen vertreten kann, rund zwei Fünftel der Bevölkerung. In diesem Problem stecken mehrere andere, deren größtes lautet: Kann eine weiter gehende Ethnisierung der inneren Widersprüche Afghanistans vermieden werden? Und wenn ja, wie?

Das weist auf die Unterstützer aus der näheren Umgebung. Die Hasara, die schiitische Minderheit, werden von Iran gestützt; die usbekischen Milizen des Generals Abdul Raschid Dostam lassen sich von Taschkent fördern; Russland und Tadschikistan munitionieren die Vereinigte Islamische Rettungsfront, also die Nordallianz; verschiedene pakistanische Strömungen und Organisationen setzten bisher verschiedene paschtunische Verbände für ihre Interessen ein (nicht zuletzt steckte der Geheimdienst ISI bis vor kurzem hinter den Taliban). Auch diese Nachbarn müssen zu parallelem Handeln gebracht werden. Sonst wird der Grundstein, der in Berlin gelegt werden soll, ein absurdes Ding: Grundstein für ein Luftschloss auf märkischem Sand.