Krim der Tataren

Eine Rückkehr in die verbotene Heimat

Frankfurter Rundschau, 11. Dezember 1993
Staubfahnen ziehen sich durch die Ebene. Auf der Asphalttrasse flirrt die Hitze, täuscht Wasserlachen vor. Feuchtigkeit würde der Steppe guttun. Regen könnte den Smog vielleicht niederzwingen, der sich am Horizont über die Hochhäuser am Rand von Simferopol breitet. Er müsste die Felder grüner werden lassen und das Brachland auch.

Zementgrauer Staub hat sich fingerdick auf den Block gelegt, der, zu Buchstaben geformt, den Anfang und das Ende der Krim-Hauptstadt markiert, ein verschwenderisches Ortsschild wie überall dort, wo die Sowjetmacht einmal verwaltet hat. Zementfarbener Staub wirbelt auf unter unseren Tritten auf dem Weg zu den Wohnblöcken rechts hinter der Tankstelle, Tristesse in Grau, nicht sehr gemildert durch eine vernachlässigt wirkende Grünfläche und ein paar Platanen. Der Silo könnte in Murmansk stehen oder an irgendeinem Ort, der einst nach einem Revolutionär genannt war. Er könnte Arbeiterwohnung sein oder zufällig in die Landschaft gestellte Wohnanlage einer Kolchose. Aber in diesem Fall sind die Menschen dort mit Ausweisen versehen und "haben einen Status": Studenten einer Hochschule von Simferopol. Neuerdings gibt es Nachbarn, die "keinen Status haben": Krimtataren. Wenn die Studenten von der Südseite ihres Hochhauses aus dem Fenster sehen, können sie sich über das elende Leben dort unten in der Ebene oberflächlich informieren. Irgendwer hat deren Geschichte den Jung- Akademikern auf der Halbinsel Krim einmal erzählt. Ungefähr so: "Die Tataren kommen! Sie sind zu allem fähig. Sie wollen Land. Und wen sie dort antreffen, dem schneiden sie nachts die Kehle durch." "Ach, Unsinn", sagt der lang aufgeschossene Mihailo. "Man muss nicht allen Quatsch glauben."

Ein bisschen fremd sind sie ihnen aber immer noch, die Tataren von nebenan im Ort Molodeshnoje, gleich hinter der Stadtgrenze. Man geht einander aus dem Weg. Auch wenn es im Hochsommer kein Wasser gibt? Wenn die Brunnen austrocknen und die da unten in der Ebene um Hilfe bitten? "Nein", meint Iwan, "erstens bitten sie nicht, und zweitens hat man dann im Studentenhaus ebenfalls ein Wasserproblem. Duschen, zum Beispiel, kann man dann nicht."

Wenn das die einzige Härte des Lebens in der Heimat wäre Chalis Zidulajew wäre zufrieden. Von einer Wasserleitung kann er nur träumen; irgendwo zwischen Sonnenblumen und Bohnen vor seinem Haus steht eine Pumpe, und die gibt oft nichts her. Ein Haus? Na ja. Gebaut haben die Tataren, dann kamen irgendwelche Schläger und haben alles in Stücke gehauen. Wiederholt hat sich das, sagt er leidenschaftslos, der hagere Mittvierziger. "Einige Male war die Sonderpolizei da, sechs Busse voll OMON-Leute." OMON ist die Spezialtruppe, die in der alten Sowjetunion das Regime mit Gewalt verteidigt hat. Natürlich weiß Chalis, dass diese Leute im litauischen Wilna den Fernsehturm stürmen wollten, dass sie im lettischen Riga das Zeitungshaus besetzt haben, dass es dabei viele Tote gegeben hat. Das kam ja im Fernsehen. "

Alles haben sie hier umstellt", erzählt Chalis. "Zur Gewalt wollten uns die OMON-Leute reizen, aber den Gefallen haben wir Tataren ihnen nicht getan. Die Gewalt kommt von den anderen. Wir haben nur eine Waffe, die Geduld."

Chalis Zidulajew hat sich, nach vier Jahren, eine Bleibe bauen dürfen, endlich ganz legal. Drei auf vier Meter. Darin stehen ein Bett, zwei Sofas, ein Kühlschrank, darauf ein Fernseher. Durch das schmale Fenster schauen seine vier Kinder herein, lachen über die neugierigen Fremden und mögen die Schule gar nicht: Zu weit ist der Weg, und alles wird in russischer Sprache erklärt. Chalis, seine Frau und die Kinder wohnen in diesen zwoelf Quadratmetern. Der Vorbau übrigens ist illegal, ein anderthalb Meter breiter Verschlag, der Küche und Vorratsraum sein muss. Und wenn er aus der Türe tritt und hinüberschaut zur Landstrasse, kann er sein Vaterhaus sehen.

Chalis' Vater ist aus seinem Geburtshaus verjagt worden, als er siebzehn Jahre alt war. Vier Häuser hat die Großfamilie damals gehabt Chalis' Vater, seine sechs Brüder und seine beiden jüngeren Schwestern. Ferne, unwiederbringliche Vergangenheit. Von dort, von der eigenen Geschichte, vom eigenen Leben sind die Zidulajews viele Zidulajews, Hunderttausende durch eine Gewalt abgeschnitten worden, der sie sich nicht widersetzen konnten. Zwei Namen hat die Gewalt: Krieg und Stalin.

Im Oktober 1941 waren die Deutschen gekommen. Man ist ihnen wohl aus dem Weg gegangen, Chalis war damals noch nicht geboren und kann es nicht wissen. Zwei Jahre später, so hat er in der Schule gelernt, "war die Krim wieder befreit". Aber was für eine Freiheit war das? Am 11. Mai 1944 ordnete Diktator Josef Stalin in Moskau an, dass alle Krimtataren von der Halbinsel zu deportieren seien. Genau 194 111 Menschen wurden an einem einzigen Tag verjagt. Ein halbes Jahr danach lebte kein Krimtatare mehr in der alten Heimat.

Zu Feinden der Sowjetunion war das ganze Volk erklärt worden. Mit der Wehrmacht, mit den Nazi-Behörden sollen sie kollaboriert haben. Wahr ist daran, dass es den deutschen Behörden mit Unterstützung eines eingefleischten Antikommunisten, des Alt-Politikers Ahmet Oesenbaschly, tatsächlich gelungen war, 4400 tatarische Männer für eine Art Hilfspolizei und für "Selbstschutzkompanien" anzuwerben. Gleichzeitig aber dienten rund 60 000 Krimtataren in der Sowjetarmee. Man wusste es damals, man weiß es heute. Man vergaß es nur lange Zeit in Moskau und zwar absichtlich. Eine Vorgeschichte hat das jedoch. Die Vornamen der Vorgeschichte lauten einerseits Katharina, andererseits Ismail. Katharina: Das war eigentlich Sophie Auguste, Tochter des Fürsten Christian August von Anhalt-Zerbst, geboren am 2. Mai 1729 in Stettin, 1745 verheiratet mit dem russischen Thronfolger Peter III. aus dem Hause Romanow-Holstein- Gottorp, der trotz erheblicher geistiger Beschränktheit in den ersten beiden Quartalen des Jahres 1762 Kaiser in St. Petersburg war. Die ihm angetraute anhaltinische Fürstentochter war nicht unbeteiligt an seinem Sturz und seinem gewaltsamen Tod und regierte danach so erfolgreich, dass sie Russland den Status der Großmacht und sich selbst in den Geschichtsbüchern den Beinamen "die Grosse" verschaffte.

Die Kaiserin, in russischer Sprache Jekaterina gerufen, hat durch einige ihrer Günstlinge die Krim erobern lassen. Die Halbinsel war aber keineswegs menschenleer und kulturlos gewesen. Das Khanat der Krimtataren, dreihundert Jahre vorher aus der Spaltung des einstigen mongolisch-türkisch-tatarischen Reiches in Osteuropa entstanden, war ein hochentwickeltes Kulturland. Dreimal mehr Buerger als in Russland konnten lesen und schreiben. Die steinernen Häuser der Hauptstadt Bachtschissaraj (türkisch: Bahce-Sarai, "Gartenpalast") übertrafen jene des in Holz erbauten Moskau an Dauerhaftigkeit und Eleganz. Genuesische, venezianische, griechische, armenische und osmanische Händler ließen es am Welthandel teilhaben.

Als Katharina II. im Jahre 1783 die Halbinsel annektierte, einen neun Jahre alten Vertrag mit dem Osmanischen Reich einfach vergessend, begann für die Krimtataren eine Zeit drückender Verfolgung. Nicht weniger als 300 000 wanderten in nur sechs Jahren, bis 1790, ins Osmanische Reich aus. In den folgenden hundert Jahren ging eine weitere halbe Million ins türkische Exil.

Russische Siedler kamen, ukrainische Siedler, bulgarische Siedler, auch deutsche Siedler. Die verbleibenden Tataren lebten in der wasserarmen Steppe im Zentrum und im Norden der Halbinsel und im Gebirge. Vor allem aber in den Städten: Ak Metschet ("Weiße Moschee"), das umgetauft wurde in Simferopol; Bachtschissaraj; die Küstenorte. Zwei Drittel der Krimtataren waren Städter.

Auch Ismail, der schon Erwähnte: Ismail Bey Gaspir-Ali, unter seinem russischen Namen Gasprinskij vielleicht berühmter. Gasprinskij wurde 1851 in Bachtschissaraj geboren und hat bis zu seinem Tod im Jahre 1914 dort gewirkt, als Philosoph, Lehrer, Journalist, Sprachschöpfer und Reformer. Gasprinskij hat die umfassendste Darstellung des Islam im Russischen Reich geschrieben. Gasprinskij hat in seiner, 1883 in Bachtschissaraj gegründeten Zeitung Tercueman ("Dolmetscher") eine neu-türkische Schriftsprache entwickelt, die vom fernen China bis auf den Balkan, von Kaschgar bis Konstantinopel verstanden wurde. Und er hat ein neues Denken und eine neue Pädagogik geschaffen, Jadidismus genannt, nach dem arabischen Wort jadid (neu).

Schließlich hat Gasprinskij auch die Zusammengehörigkeit der Türkisch sprechenden Völker vorausgedacht. Das war, später unter Stalin, allerdings eine todeswürdige politische Abweichung. Die letzten politischen Schüler Gasprinskijs wurden 1927 verhaftet, deportiert, liquidiert. Weli Ibragimow, der tatarische Parteichef auf der Krim, war in jenem Jahr der erste sowjetische Politiker, der in Handschellen aus dem Amtszimmer abgeführt und umgehend erschossen wurde, sieben Jahre vor den berüchtigten Grossen Säuberungen.

Da wundert es uns nicht, dass in der Zwoelf-Quadratmeter-Hütte in Moldeshnoje der Rückkehrer Chalis Zidulajew nichts von Solidarität zwischen Krimtataren und Usbeken zu erzählen weiß. In Usbekistan, dem Verbannungsland seiner Eltern, ist er aufgewachsen. Als Musiker hat er gearbeitet, berichtet er, nimmt ein Tamburin von der Wand und schlägt einen Volkslied-Rhythmus an. Geld hat er genug verdient, Haus, Auto und Bankkonto gehörten ihm. Aber Freundlichkeit hat er nicht erfahren von den Usbeken, immer wieder nur den Satz gehört: Ihr gehört nicht hierher! Daher, kommentiert er, "sind wir heimgekehrt ins Vaterland. Das Vaterland, das wir einmal hatten."

"Das Vaterland wird es wieder geben, hier auf der Krim", bekräftigt anderntags Mustafa Djamilow, der Vorsitzende der obersten krimtatarischen Vertretung. "Vor 49 Jahren sind wir vertrieben worden, jetzt fordern wir unsere nationalen Rechte, damit wir die nationalen Werte, die nationale Kultur, die nationale Identität wieder aufbauen können." Es wird sehr ruhig, als der nur mittelgroße, zerbrechlich wirkende, dennoch Entschlossenheit ausstrahlende Djamilow sich an eine Runde von Zuhörern wendet Tataren und Ukrainer, Russen und Armenier, Moslems und Christen, eben: Buergerrechtler von der Krim.

"Was wir wollen", betont Djamilow, "ist die national-territoriale Autonomie." Kein Gruppen-Egoismus: "Man muss die Rechte der Menschen verteidigen. Die Ziele der Krimtataren sind ziemlich die gleichen wie die der ukrainischen demokratischen Bewegung. Die Ukrainer waren auf der Krim schon so unterdrückt wie wir Krimtataren." Ein eigenes Land, das zur Krim gehören wird, wie die Krim ein Teil der Ukraine bleiben soll eine Sehnsucht, die politisches Programm geworden ist.

Leise spricht Djamilow, still ist es im Raum, die Vorhänge rascheln fast unhörbar, kaum spürbar zieht ein Hauch etwas frischerer Luft durch den stickigen Raum. "Ein Gesetz", fordert er, "muss erlassen werden, "ein besonderes Gesetz über den autonomen Status der Krimtataren in der Ukraine." Er hofft auf den Kiewer Staats- und Parlamentspräsidenten Leonid Krawtschuk. Er ist entschlossen, den Weg der Gesetzlichkeit, aber auch des zivilen Widerstands gegen ungerechte Ordnungen zu gehen.

Einer ist aufgestanden, rauchend steht er am Eingang, konzentriertes Zuhören, wie bei allen in der Runde. Draußen hämmert jemand Latten zusammen. Zwei Handwerker rühren Putz an, tragen ihn auf die Mauern auf. Im Garten hinter dem Haus hat eine alte Frau eine türkische Zeitung vor sich ausgebreitet, andere haben einen arabischen Schriftzug daraus auf eine Bahn Packpapier übertragen und sorgfältig die Buchstaben ausgeschnitten. Die Schablone wird morgen an die Hauswand gepinnt werden, Farbe wird aufgespritzt werden, es muss angezeigt werden, dass hier in der Tschkalow-Straße 40 die Medjlis residiert. Djamilow ist ihr Vorsitzender.

Die Medjlis ist die oberste Vertretung der Krimtataren. In der ganzen Sowjetunion (damals gab es sie noch) hat das verbannte, vertriebene Volk Ende Juni 1991 Delegierte gewählt, die zu einem Kongress zusammentraten, etwa 400 Vertreter. Erster Kurultai (Kongress) hieß diese Delegiertenversammlung, und sie hat 33 Leute als ihre Medjlis , ihren Rat, gewählt. Auch Kommunisten waren damals darunter, die Mehrheit hat indes aus begreiflichen Gründen mit der KPdSU nie etwas zu tun haben wollen. Es gibt Unzufriedene, die sich dort nicht repräsentiert sehen, aber die Medjlis ist die legitime Vertretungskörperschaft der Krimtataren. Eine Art Parlament, eine Art Vor-Regierung für eine Staatsform, die es nur in der Zukunft gibt. Immerhin: 250 000 tatarische Rückkehrer auf der Krim wissen jetzt, wer für sie spricht.

Nicht alle diese Heimkehrer haben wie Chalis Zidulajew ein Notdach über dem Kopf. "Auf der Krim", sagt der lang aufgeschossene Resat Tschubarow, Medjlis -Mitglied, "werden die Rückkehrer nicht erwartet. Das heißt: die staatlichen Stellen wünschen sie nicht und sind nicht auf sie vorbereitet." Die staatlichen Stellen sind selbstverständlich aus Wahlen hervorgegangen, auch sie, als es noch eine Sowjetunion gab, 1990. Nur war auf der Krim alles noch ein erhebliches Stück sowjetischer. Die Krim gehört seit 1954 zur Ukraine, so hat es damals Nikita Chruschtschow beschlossen. Aber zwei Drittel der Bewohner waren am Wahltag Russen. Sie haben den Ideologie-Sekretär der Partei, Bagrow, zum Parlamentspräsidenten gemacht, und seit die Krim eine Autonome Republik im Bestand der Ukraine ist (September 1991), ist Bagrow, der alte Apparatschik, deren Staatschef.

Von diesem Bagrow Hilfe erwarten? Nadir Bagirow laechelt. Der junge Mann mit dem schmalen Schnurrbart und dem runden Gesicht, der sich in Fahrt reden kann über die Geschichte und die Zukunft seines Volkes, ist Medjlis -Mitglied, weil er Optimist ist. Doch seine Zuversicht richtet sich auf "die Basis". "Kommt mit, wir werden es sehen. In Sarankoi."

Wo die Hauptstrasse zwischen Simferopol und Sewastopol die Bahnlinie kreuzt, dirigiert Nadir Bagirow den Reisebus auf eine Nebenstrasse. Mittelgebirgslandschaft, weiße Tafelberge, senkrechte Hänge; im Tal dehnen sich, soweit das in der Enge möglich ist, Obstplantagen, Gemüsefelder, und in den Seitentälern sehen wir, was uns aus Molodeshnoje schon geläufig ist: "wilde", das heißt ungenehmigte Hüttensiedlungen. Am nächsten Ortsrand die Beton-Lettern "Tankowoje", Panzerstadt; dann: "Kolchos Ukraina". Der Weg in die Baustelle ist schwer zu passieren: Hier beginnt Sarankoi. Rechts und links der Kiespiste liegen graue Ziegelstapel: grau, weil es nur das eine am Ort verfügbare Material gibt. Die Ziegelei ist ein Werk unter freiem, staubigem Himmel, am oberen Ende des Tals, wo die Strasse aufhört. Grau sind die vier Dutzend Häuser, grau die Gesichter der Alten. Kinder hüpfen, rennen, stolpern herbei: Den Bus kennen sie, das Reisegefährt mit der Reklameaufschrift "Reisebüro- Anton Specht, Reutte, Tirol". Die lateinischen Lettern können sie nicht lesen. Sie wissen wohl auch nicht, dass die Türk Federasyon dieses Fahrzeug der Medjlis geschenkt hat die großtürkisch orientierte, ganz weit rechts im politischen Spektrum des fernen Mitteleuropa stehende Organisation jener Türken, die sich auf Alparslan Tuerkesch berufen. Aber diese türkische Organisation weiß, wem sie was schenkt und weshalb sie das tut. Vielleicht weiß sie es besser als die Beschenkten.

Die Türkei ist präsent: Das Gemeinschaftshaus hat sie finanziert, es ist noch im Bau und wird acht Wohnungen für Veteranen enthalten. "Die anderen, die Russen", sagt Bagirow, "feiern die Veteranen ihres Vaterländischen Krieges oder die Helden der Arbeit. Wir unterstützen die Veteranen unseres Widerstandskampfes." Drinnen hat der junge Koran-Lehrer seine Lehrstunde unterbrochen. Die Mädchen, denen er das arabische Alphabet beibringt und die er mit ruhiger Strenge korrigiert, packen zusammen und gehen, unschlüssig, neugierig, kichernd. Der Schulraum wird gebraucht, weil Alexej Alexejewitsch gekommen ist. Der Kolchos-Chef, weißhaarig, offenkundig gutmütig und kaum zu erschüttern, hat die gute Nachricht mitgebracht: Eine Moschee darf demnächst auch gebaut werden, sofern die oberen Behörden keine Einwände mehr haben.

Alexej Alexejewitsch war längst Rentner, als die Rückkehrer nach Sarankoi kamen. Sein Nachfolger aber war überfordert. Da holte der Ortssowjet den erfahrenen Mann aus dem Ruhestand zurück; der Nachfolger wurde zum Vorgänger. "Es ist doch Platz für alle da", sagt Alexej Alexejewitsch, hebt die fleischige rechte Hand fünf Zentimeter und lässt sie schwer wieder fallen. "Fünftausend Leute sind hier, davon jetzt 1500 Krimtataren. Die kamen, wollten hier leben. Nun ja, sie wollten alles gleich erledigt haben. Aber es gab dafür ja nicht die geringste Planung. Wenn es einen staatlichen Plan, ein staatliches Programm gäbe, dann wüsste ja jeder Kolchos, was er zu tun hat. So aber so haben wir es eben selber gemacht. Es war alles freiwillig."

Gut, das räumt er ein: Für die Landwirtschaft ist der Platz gewissermaßen ausgebucht, arm ist der Kolchos im Grunde. Und wirklich, es sind mehr gekommen, als Arbeitsplätze da waren. "Wer hier lebt, hat aber die Chance, irgendwann einen Arbeitsplatz zu bekommen", heißt es, und Mullah Mustafa, der geistliche Führer der Sarankoier Tataren, nickt bedächtig dazu. "Der Kolchos soll als kollektive Farm weiterbestehen, in der Hauptsache mit Obstanbau. Und wir haben viele Nebenerwerbsmöglichkeiten. Wir errichten ein Dienstleistungskombinat, eine Schuhreparaturwerkstatt, einen Lederverarbeitungsbetrieb; es ist natürlich schwer, mit allem auf einmal anzufangen." Doch die Rückkehrer sind fleißig; sie hoffen, und Hoffnung macht eifrig. "Wir bauen Tabak an, haben eine Hühnerfarm, Zigarettenherstellung. Und Konserven werden wir produzieren. Und unseren Rotwein ausbauen."

Der Vorsitzende des örtlichen Sowjets, Dorfschulze Gerassimowitsch, stimmt dem Alten zu. "Alle sind Menschen und wollen unter der Sonne leben." Sonne, freilich, gibt es mehr als genug. Land fehlt. "Das Problem lösen wir gemeinsam. Sarankoi ist eine gute Ausnahme." Und deswegen hat es hier auch keine ethnischen Konflikte gegeben, bekräftigt der Verwaltungschef.

"Ethnisch, was heißt schon ethnisch", murrt Nadir Bagirow, der so aussieht wie der Tatare im Bilderbuch: Rundes Gesicht, runde Schultern, ein Schnurrbart wie vielleicht der junge Dschingis Khan. Er drängt sich zwischen die Kinderschar und hebt eine Vierjährige auf die Schultern, strohblond, strahlend blauäugig. "Seht her, zweimal Tataren. Wir sind doch keine Ethnie, keine Rasse oder sonst so'n Zeug. Wir haben Vorfahren aus dreißig Völkern. Wir sind eine Kultur. Wir wollen in Frieden leben, hier. Das ist alles."