Und abends in die Karaoke-Bar, weil die Stube klein ist

Shanghai baut sich ein neues Zentrum und will wieder die modernste Stadt ganz Ostasiens werden

Frankfurter Rundschau, 24. Dezember 1992
Mietshäusern in der Shaanxi-Straße führt augenscheinlich in einen Park. Oder doch ein Gartenlokal? Dem an lateinische Schriftzüge gewohnten Besucher fallen als nächstes die Buchstaben "O" und "K" auf, dann versteht er, dass die chinesischen Zeichen davor wohl als Transliteration der japanischen Silben "kara" zu lesen sind: Karaoke. Hier in der Nähe des geographischen Mittelpunktes von Shanghai kann man also singen für Geld.

Zuerst die Eintrittskarte, dann gewöhnen sich die Augen allmählich, sehen nicht mehr nur die TV-Schirme in den Ecken des ziemlich dunklen Raumes, erspähen sogar eine freie Sofa-Nische. Eine amerikanische ausländische Limonade von brauner Farbe bitte, und nun nehmen wir, an den Lichtmangel gewöhnt, auch wahr, dass die junge Dame am Nebentisch leise, aber engagiert die Hongkonger und Taiwaner Weisen mitsingt.

Das Heft, das uns gereicht wird, ist es eine Speisekarte? Nein. Ein Menü der Melodien wird uns gereicht, die wir bestellen dürfen für ein paar Kuai, nicht viel mehr als eine Mark fuffzig. Der Hauptteil ist chinesisch; schade, wir kennen weder Weise noch Text noch Verfasser. Auf den letzten Seiten aber wird es englisch. Strangers in the night aha, sehr passend und sehr Sinatra.

Vor 50 Jahren war hier Ausland

Wir singen nicht. Das junge chinesische Publikum könnte einen durchaus negativen Begriff von der europäischen Musikkultur davontragen. Wir schauen, soweit das Schummerlicht es zulässt. Die junge Frau am Nebentisch bekommt Besuch von der Kellnerin; zahlt sie jetzt? Mit einem Bon in der Hand geht sie davon. Ein Teststreifen flackert über die Bildschirme, eine Landschaft tut sich auf, Musik der süßlichen auslandschinesischen Art strömt aus den Lautsprechern, Schriftzeichen an den unteren Bildschirmrändern füllen sich mit Farbe in dem Takt, in dem eine weibliche Stimme sie in anhörenswert musikalische Töne umsetzt. Es ist die Stimme der jungen Frau, die gerade am Nebentisch saß.

Dies ist nicht die einzige Karaoke-Bar in Shanghai, nicht die einzige in jenem Teil, der unverkennbar nach dreiundvierzig sozialistischen Jahren noch die architektonischen Züge Frankreichs trägt. Hier war, bis in die vierziger Jahre, für Chinesen Ausland: Französische Konzession, wie es nördlich davon eine Internationale Konzession gab und eine Japanische und, sagen wir es der Vollständigkeit halber, auch eine Chinesenstadt. Mit Karaoke und Toyota, Seiko und Mitsubishi scheint Nippon nun die Achtmillionenstadt zu erobern.

Scheint. Die jungen Menschen kommen nicht, weil sie einer Mode verfallen sind, die "westlich" genannt wird, obwohl sie aus dem ferneren Osten stammt. Sie berappen nicht dreißig Kuai für den Eintritt, fünfzehn für einen alkoholfreien Drink und fünf für einen Auftritt am offenen Mikrofon, weil sie insgeheim gern Japaner wären. Sie kommen, weil sie hier endlich ein bisschen Ruhe finden. Dem statistischen Durchschnitts-Shanghaier stehen (theoretisch) sechs Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung. Die erstrebte Dreipersonenfamilie hat ein 18-Quadratmeter-Zimmer und sonst vielleicht noch eine gemeinsame Küche mit den Nachbarn. Die Theorie aber schmeichelt. Die real existierende Wohnfläche pro Shanghai-Mensch ist in vielen Quartieren just drei Quadratmeter groß. Daher geht man, um einsam zu sein, singen.

Shanghai, die Weltstadt, ist dennoch das Größte, Beste und überhaupt Unvergleichliche an China, findet Dong Guangchu. Der proper westlich gekleidete Mann hat die berufliche Aufgabe, ausländische Gäste im Namen der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua in der Stadt am Huangpu zu empfangen. Er ist Lokalpatriot. Er zeigt die Stadt von der vorteilhafteren Seite dem Gast, der nicht gerade in eine Karaoke-Bar entflohen ist, um endlich allein zu sein. Er verschweigt nicht, was arm ist und was schlecht; freilich, daran ist Peking schuld, es hat all die Jahre nur kassiert und kassiert. Was könnte Shanghai sein, wenn zhongyang , die Zentrale, nicht entnommen hätte und wieder entnommen!

Das hat, Deng Xiaoping sei Lob und Preis, nun glücklicherweise ein Ende. Shanghai darf wieder wachsen. Gewiss, ja. Das führende Hotel am Platze, Jinjiang Towers, misst neuerdings 42 Stockwerke und dreht sich oben im Panorama-Restaurant um die eigene Achse. Irgendwann kommt dann das Wolkenkratzer- Ensemble im Neubaugebiet von Hongqiao ins Blickfeld, an der Strasse zum Flughafen. Als wir abends vorbeifuhren, ermaßen wir vor grellen Leuchtreklamen die ganzen Ausmaße nicht.

Wenn die Abgase des Dauer-Staus auf den Strassen den Horizont nicht vernebeln, erkennt man nach Süden hinaus die Entwicklungszone von Minhang. Eine Hochhaus-Brut, die der Frankfurter Adler hochzupäppeln wohl nicht imstande wäre. Gewiss, auch den Fernsehturm betrachtet man von gleich zu gleich, an der Höhe gemessen; doch der ist, sagt der Lokalpatriot, ein alter Hut. Unter die Erde geht Shanghai nämlich auch.

Einerseits die U-Bahn; noch rollen die ersten Wagen erst zur Probe durch den ersten Bauabschnitt, unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Andererseits die Autos; die rollen aber gar nicht sehr. Wir haben uns doch verabredet, drüben das größte Entwicklungsgebiet von Shanghai zu betrachten, Pudong, wo die Stadt so kräftig wachsen soll, wie der Kapitalismus pardon: die Soziale Markt-Ökonomie sie eben zu düngen vermag mit Investitionsgießkannen und Zollfreiheitsversprechen. Nehmen wir die Fähre? Wir nehmen den Tunnel.

Das ist leicht gesagt. Der Tunnel beginnt in der Yan'an-Straße. Um hinzukommen, müssen wir aber ein paar Baustellen umfahren (am besten ganz Shanghai, denn ganz Shanghai scheint Baustelle zu sein. Übertreiben Sie nicht, sagt, geschmeichelt, Dong Guangchu). In der Huaihai-Straße, die zur Franzosenzeit Avenue Joffre hieß und der (britischen) Nanking-Strasse den Ruf streitig machte, die beste Kaufstrasse auf dem Territorium Chinas zu sein, finden wir ein Wegzeichen zur weiteren Orientierung, unübersehbar, in Höhe der ersten Etage eines Glitzer-Geschäftes. Rote Lippen, in der Breite geschätzt: anderthalb Meter plastisch herausschmollender Kussmund. In dem Glitzer-Geschäft darunter werden Kosmetika gehandelt, sehr up-market , für den allergehobensten Bedarf. In der Nähe übrigens ist vor 71 Jahren die Kommunistische Partei Chinas gegründet worden. Es gibt dort ein Museum. Der Wunsch, diese Stätte zu betrachten, macht uns zu Exoten: Muss es gerade dieses beiläufige Detail der Historie sein?

Wir haben Muße zur Betrachtung der Monster-Lippen, der Stau beschafft uns Zeit genug. Der Kraftwagenverkehr ist zu groß geworden; er sollte das Volk auflösen und sich ein kleineres wählen, dann ginge es vielleicht voran. In Pudong drüben, um die sechs Kilometer weiter, stellen wir fest, dass wir uns nur um eine Stunde verspätet haben, obwohl wir nach deutscher und shanghailändischer Gewohnheit sehr pünktlich abgefahren sind.

Ein zweiter Mittelpunkt

Pudong, "östlich vom Huangpu", soll ganz bald Shanghais zweiter Mittelpunkt werden; auf die bekannte Stadt zwischen "Bund" und alter Rennbahn, die bald wieder eine sein wird, dürfte man dann unter dem Namen Puxi zu sprechen kommen, "westlich vom Huangpu". Für zwei Millionen Menschen wird da gebaut.

Der britische Architekt Richard Rogers hat eben den Auftrag bekommen, ein kleines Wohnquartierchen für 500 000 Menschen zu planen sowie das Zentrum Lujiazui: Sechzigstöckige Wolkenkratzer rings um einen Park mit einem Halbmesser von siebenhundert Metern; sechs U- Bahn-Stationen; ein Kultur-, Geschäfts- und Verwaltungszentrum ungefähr dort, wo der Tunnel von der Yan'an-Straße in Puxi auf dem Ostufer wieder das Tageslicht erblickt; die Stadtverwaltung hatte sehr genaue Vorstellungen.

Dienstleistungszentrum sollte das sein, war die Vorgabe. Achtzig Prozent der umbauten Fläche: Büros. Rogers hat dem Londoner Guardian jüngst mitgeteilt, dass es höchstens fünfzig Prozent sein dürfen, oder die Neben-City wird als nächtens totes Objekt gebaut werden. Das will das offizielle Shanghai natürlich nicht.

Nein, Leben soll pulsieren in jenem neuen Stadtkern, der jetzt noch von unsagbar verfallenen, unbeschreiblich überbewohnten zweistöckigen Arbeiterhäusern beherrscht ist und von allerlei hafenbezogenen Staatsbetrieben, die sich mit einem Schutzwall aus Schrott und Halbfertigem gegen zudringliche Betrachter abschotten. Nein, das kann so nicht bleiben. Aufgeräumt, blitzsauber, lebendig und sehr hoch wird das, beweist uns Zhang Puxian, von Beruf Dozent, von der Aufgabe Informations- und Verbindungsbeamter des Entwicklungsbüros Pudong, anhand eines zwei Jahre alten Video-Films, der aber von den Zeitläuften auch schon wieder überholt ist: Markt! Markt! Da macht man keine Pläne mehr für die nächste Ewigkeit.

Doch, man macht sie, jetzt aber für die Öffnungspolitik; gaige , die Reform, hat die Weise angestimmt, die Stadt-Verantwortlichen singen sie begeistert mit, als wäre es Karaoke. Ein Freihafen in Lingqiao und Waigaoqiao am tiefen Wasser, wo der Huangpu in den Yangzi mündet, Asiens wasserreichsten Strom. Ein neuer internationaler Flughafen am anderen, südlichen, Ende; heute bauen die Bauern der Dörfer Jiang Zhen und Shi Wan da noch Gemüse an. Industrie das ganze rechte Flussufer entlang: Petrochemie, Schiffbau, Metallurgie, Baumaterialen, vor allem aber High-Tech.

Wo sollen die Arbeitenden wohnen, wenn das eine verdichtete Gewerbezone wird mit Hunderttausenden Arbeitsplätzen? Nun, in der Nähe; die Betriebe können Wohnungen kaufen. Oder bauen. Und wenn sie weiter entfernt leben, gar in Puxi meiyou wenti , kein Problem, dann lässt man eben Werksbusse fahren. In dem Stau? Nun, wir werden einen zweiten Tunnel haben und eine zweite Brücke und eine dritte und eine vierte. Die erste, flußabwärts, ist hoch genug, um Überseeschiffe durchzulassen, kostet eine geringe Gebühr und ist deshalb fast leer. Der Stau befindet sich auf festem Land an beiden Rampen. Einen Inneren Ring und einen Mittleren wird man bauen, auf dass der Verkehr wieder flüssig werde.

Das wird er nicht. Der große Romancier Mao Dun hat das kapitalistische Shanghai beschrieben, wie es vor sechzig Jahren war; "Shanghai im Zwielicht" ist ein realistischer Roman. Damals war Shanghai, obgleich fremdbeherrscht, Ostasiens modernste und dynamischste Stadt. "Sehen Sie", sagt der Lokalpatriot, "und das werden wir wieder sein". Mao Dun schilderte, wie kapitalistische Ausbeuter, fremde Imperialisten und chinesische Compradoren mit schnellen Autos in einer halben Stunde die Stadt durchquerten. Das mag alles zutreffen. Das mag in Teilen auch wiederkehren, abgesehen von der kolonialen Aufteilung in Konzessions-Stadtteile fremden Rechts. Doch die Zeitangabe für die Autofahrt sie wird sicher Science fiction bleiben.