Der Golf-Krieg in der dritten Dimension

Nach dem Patt in den Huweisah-Sümpfen bombardieren Iran und Irak nun die großen Städte

Frankfurter Rundschau, 3. April 1985
Leuchtbomben steigen auf über dem Tigris und den Huweisah-Sümpfen. Die irakische Armee leuchtet den Schauplatz aus, auf dem sich die iranische Offensive Mitte März festgefahren hat. In kurzen Abständen feuern Raketenwerfer Salven in die ausgedehnten Marschen und auf die Insel Madjnun. Am Nachthimmel kennzeichnen sekundenlang rötliche Leuchtpunkte die rasante Flugbahn der Projektile, sie stammen vom Rückstoß der Katjuscha-Raketen. Die Front ist gerade acht Kilometer von der Überlandstraße entfernt, die dem Westufer des Tigris folgt.

Die Ortschaft Meysan, in deren Hinterland der Golfkrieg wieder zum Stellungskrieg erstarrt ist, nimmt dieses Schießen am Horizont fast gar nicht zur Kenntnis. Dieses Städtchen ist erleuchtet wie in schönsten Friedenszeiten. Vor den Teestuben und Kebab-Bratereien sitzen einige irakische Bauern, hier und da ein Uniformträger dazwischen. Ein durchaus friedliches Nachtessen wird verzehrt, und über den Speisenden blickt Präsident, Premier, General und Baath-Partei-Vorsitzender Saddam Hussein von einem jener unzähligen Plakate herunter, die das Zweistromland an allen denkbaren und undenkbaren Plätzen zieren.

Militärisch scheint sich das irakische Baath-Regime ungemein sicher zu fühlen. Keine Verdunklungsmaßnahme deutet an, daß da Gefahr von Luftangriffen bestehen könnte. Die Drei-Millionen-Stadt Bagdad prangt allnächtlich in Festbeleuchtung, so daß man beim Anflug auf den Saddam-Flughafen einen genauen Eindruck von ihren Ausmaßen und ihrem Grundriß bekommt Die strategisch wichtige Euphrat-Brücke bei Nassiriya ist knallgelb beleuchtet; niemand könnte auf den Gedanken kommen, daß dies ein unwichtiges Bauwerk wäre. Raffinerien und Ölfelder sind Dutzende von Kilometern weit zu erkennen am unregelmäßigen Orangelicht der abgefackelten Erdgase und Nebenprodukte und den verschwenderischen Betriebsbeleuchtungen.

Die irakische Luftwaffe, sagen unparteiische Beobachter in Bagdad, braucht in der Tat die der Perser nicht zu fürchten. Sie verfügt über 460 kampfbereite Maschinen, die Gegenseite wohl nur über deren 70. Und die Raketen, die seit einigen Tagen von Iran aus herübergeschossen werden und nachts gegen 2 Uhr Bagdad erzittern lassen wie schwere Gewitter, die es freilich auch gibt diese Raketen finden ihren Weg unabhängig vom Licht.

Wir fahren die Tigris-Uferstraße entlang, bei Meysan nur wenige Kilometer von der Kriegsfront entfernt. Hier, hatte ein Angehöriger des irakischen Sicherheitsdienstes noch in Bagdad beteuert, könnten zivile Fahrzeuge noch nicht wieder durchkommen, auf zwanzig Kilometer sei die vierspurige Straße unterbrochen. Hatte der iranische Parlamentspräsident Hodjatoleslam Rafsandjani doch richtig geurteilt, als er Mitte März den Übergang über den Tigris gefeiert und gar mit dem ägyptischen Durchbruch durch die Bar-Lev-Linie am Suez-Kanal im Oktober 1973 verglichen hatte?

Rafsandjanis große Worte nahm sein oberster Kriegsherr, Ayatollah Ruhollah Khomeiny, am 21. März zurück: Sieg und Niederlage an der Front seien weniger wichtig als das getreuliche Befolgen des Wortes Gottes. Seit dieser Neujahrsrede fühlt die irakische Armee sich erst recht im Felde unbesiegt. Und Diplomaten in der irakischen Hauptstadt analysieren, daß Khomeinys Islamische Republik bei der Offensive in der Huweisah-Sümpfen nach dem 11. März wohl nun endgültig ihre letzten "Profi-Reserven" verbraucht habe.

Da seien in einem ungeheuer blutigen, erbarmungslosen Infanteriekampf zwischen 20.000 und 30.000 Iraner gefallen, Irak habe mindestens 7000 Mann verloren. Danach sei nicht mehr mit einem entscheidenden Erfolg einer Seite im nun viereinhalb Jahre alten Bodenkrieg zu rechnen.

Saddam Hussein el-Takriti (48), seit dem Rücktritt Hassan al-Bakrs (am 12. Juli 1979) von den Ämtern des Staats-, Regierungs- und Baath-Parteichefs alleiniger starker Mann in Bagdad, hatte sich das im September 1980 freilich anders vorgestellt. Er sah damals Iran von inneren Wirren erschüttert, Ayatollah Khomeinys System noch ungefestigt und die arabische Minderheit in der Ölprovinz Khusistan (in Irak sagt man: Arabistan) in heller Empörung. Da war es wohl angezeigt, einige alte Rechnungen zu begleichen.

Die eine hängt mit der Grenzregelung von 1975 zusammen, die noch mit dem Schah ausgehandelt worden war. Der Perserschah gestand zu, daß er den aufständischen Kurden im irakischen Nordosten keine Unterstützung, vor allem keine Waffen und keinen Unterschlupf, mehr gewähren wolle. Dafür müsse Irak sich zu einer Einigung am Südende der Grenze bequemen. Da verlief die Staatsgrenze nämlich am persischen Ufer des Schatt el-Arab, des Stromes, der bei Kurnah aus dem Zusammenfluß von Euphrat und Tigris entsteht und dann rund 20 Kilometer unterhalb Basra das irakische Staatsgebiet halb verlässt. Der Schah forderte: Fortan soll der "Talweg", die Tiefwasserlinie, Grenze sein, auf daß irakische Flußpatrouillen nicht mehr den Zugang zur Raffineriestadt Abadan kontrollieren können. Indes war die Ufergrenze seit dem Protokoll von Erzurum, geschlossen 1847 noch zwischen der Hohen Pforte (dem Osmanischen Reich) und der persischen Kadscharen-Dynastie, zu ungunsten Irans festgelegt gewesen. Der letzte Schah hatte sich also durch ein geschicktes Zangenmanöver mit Kurden und am Schatt einen Vorteil verschafft.

Die zweite Rechnung betrifft die inner-irakischen, arabischen Schiiten, wohl die gute Hälfte der arabischen Bevölkerung des 14-Millionen-Staates. Unter ihnen hatte sich Fundamentalismus von der Art Khomeinys ausgebreitet, und seit Saddam Hussein 1978 den greisen Ayatollah aus seinem Zwangsexil Najaf nach Paris abgeschoben hätte, war dieses fundamentalistische Grummeln lauter geworden. Dagegen sollte helfen: Patriotismus, Disqualifizierung der Unruhestifter als "Agenten Khomeinys".

Die dritte Rechnung: Mangels eigener Seemacht im Persisch-Arabischen Golf war Irak immer abhängig von der überlegenen iranischen Flotte, vor allem nachdem zu Schahs Zeiten die Inseln Abu Musa, Groß- und Klein-Tunb persisch besetzt worden waren. Ein Sieg zu Lande mit nachfolgendem Zerfall des Ayatollah-Systems hätte auch dies gewendet.

So läuft denn auch in der heimischen Propaganda der Golfkrieg als "Saddams Qadissiya". Bei Qadissiya hatten 638 die arabisch-islamischen Heere die heidnischen Perser vernichtend geschlagen. Es war ein Blitzsieg. Doch Saddams Qadissiya ist ein Stellungskrieg geworden, wahrscheinlicher Ausgang: Patt Die Blitzkrieg-Rechnungen sind nicht aufgegangen.

Deshalb hat Irak den Krieg in die dritte Dimension erhoben: die der Luftwaffe, wo es freilich wenig iranische Gegenwehr gibt, nicht allein wegen der wohl 420 ägyptischen Piloten, die sich mit der dreifachen Anzahl irakischer Kollegen wenigstens bei Wartungs- und Bereitschaftsdienst abwechseln. Diese "dritte Dimension" hat zwei Aspekte: den Krieg der Tanker und den Krieg der Städte.

Irakische Kampfbomber fliegen wieder Angriffe gegen "große Seeziele". So nennt der Bagdader Militärsprecher die Tanker, die die iranische Erdöl-Verladeinsel Kharg ansteuern und dort Ladung übernehmen Seit in den Huweisah-Sümpfen das Patt am Boden deutlicher geworden ist, verstärkt Irak diesen Kampf.

Folglich schießt die iranische Artillerie sich auf die grenznahe Millionenstadt Basra ein, "und auf jeden Angriff erteilen wir eine vierfache Antwort", erklärt Informationsminister Jassem Nussaif den besuchenden Journalisten. Die iranischen Raketen-Gegenangriffe, die dieser Tage Bagdad treffen, bewertet er etwas undeutlich als "Hornissenstiche". So übersetzt jedenfalls sein Dolmetscher, ein freundliches Lächeln und ein miserables Deutsch auf den Lippen.

Hornissenstiche? Die können ja wohl ein Pferd fällen, sinnen wir nach. Hat er von Mückenstichen gesprochen? Eigentlich auch nicht, das Wort "Samsum" für Hornissen ist deutlich gefallen. Ja, lacht ein irakischer Anwalt, dem wir abends unsere Ratlosigkeit kundtun, "Samsum" das sind ja auch Feuerwerkskörper, so was wie Knallfrösche. Was der Übersetzer wohl nicht wußte - weswegen wiederum wir den Informationsminister auch nicht weiter zitieren können.

Die Angriffe auf zivile Ziele, "der Krieg der Städte", das ist der zweite Aspekt der dritten Dimension. Trifft da noch zu, was Scheich Mohsen al-Feisal, einer der bedeutenden Schammar-Fürsten (die Schammar sind die reichsten, konservativsten, würdigsten Beduinen Iraks; die Hälfte der irakischen Araber leitet sich von ihnen ab), bei einem traditionellen Gastmahl sagt, zu dem er eingeladen hat? Zwei Arten des Krieges gebe es, die menschenvernichtende und menschenverachtende, bei der ohne Achtung Leben vernichtet und geopfert werde - die östliche Art, die des Khomeiny. Und die technische Art zu kämpfen, mit Artillerievorbereitung und Luftunterstützung, bei der wenigstens die eigenen Leute geschont werden - die irakische Kampfweise.

Im übrigen redet Scheich Mohsen al-Feisal sich eher in Begeisterung, wenn er darauf kommt, wie die tapferen Iraker am Nachmittag in Amman die Jordanier 3:2 geschlagen haben, ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Fußball-Weltmeisterschaft Scheich Mohsen mag den Krieg nicht sehr. Das hat er mit den meisten seiner Landsleute gemeinsam.

Die aber können es uns nicht sagen. Da sind die Geheimdienste davor, die den - von Irak eingeladenen - Journalisten mit professioneller Härte die journalistische Arbeit erschweren. Sie wollen immer dabeisein und überwachen und möglichst auch "inspirieren", was Gesprächspartner uns zu sagen haben; besser ist freilich: gar kein Gespräch. Sie lassen da nicht mit sich spaßen. Einem Kollegen, der ahnungslos die iranische Botschaft in Bagdad fotografiert, nehmen sie für zehn Minuten die Freiheit. Er, Chefredakteur einer Zeitung aus dem Fränkischen, muß hinter vorgehaltener Maschinenpistole in einem Schilderhaus peinlich beweisen, daß er kein Spion ist Als dies gelingt, folgt natürlich keine Entschuldigung; er hat eben mal Glück gehabt.

Die geheimen Dienste herrschen - und die Armee. Auf 1400 Kilometer Autofahrt nach Basra und zurück nach Bagdad sehen wir mehr Militär hinter Sandsäcken und auf Maschinengewehrposten im Hinterland, als wir an der Front vermuten können. Ist der innere Feind so stark?

Versucht man, sich dem Bagdader Funkhaus im Stadtteil Salihiya zu nähern, so wird man durch bewaffnete Wachen in hoher Kopfzahl, Stacheldraht, spanische Reiter (Eisenträgerverhaue) und Reifenaufschlitzer daran gehindert; Putschisten würden sich wohl sicher zuerst des Senders bemächtigen. Saddam Hussein, der selber durch einen Putsch an die Macht gekommen ist, die seine Leute und er dann zum Baath-Einparteisystem gewandelt haben, weiß das sicher am besten.

Doch die schiitische Opposition, deren militanteste Gruppe (ad-Dawa) ein paar Bomben und Granaten gezündet haben soll (so in der Rafidain-Bank, offiziell freilich war das eine "Khomeiny-Rakete"), ist ziemlich ruhig. As-Dawa ist wohl wirklich nicht mehr als eine militante Gruppe, und die kämpferische Massenbewegung der Kurden steckt weiter entfernt im Gebirge. Die Allgegenwart der Uniformträger soll wohl schon den Gedanken an Umsturz ersticken.

Beobachter, die seit langem in Bagdad leben, fragen sich nach dem Sinn dieser innenpolitischen Härte. Die Modernisierung, der Saddam Hussein und seine Baath-Partei sich verschrieben haben, wird, wie sie meinen, von den meisten akzeptiert. Der neue Mittelstand hat einige ökonomische Freiheiten, den Bauern kommen immer neue Bewässerungsanlagen zugute, Arbeitsplätze gibt es zur Genüge - rund drei Millionen ägyptische Gastarbeiter sollen sogar im Land sein.

Doch an Erscheinungen, die der okzidentalen Logik nicht eingehen wollen, mangelt es auch sonst nicht Iran ist der Todfeind in einem verlustreichen Krieg - doch die diplomatischen Beziehungen bestehen weiter. Hingegen gibt es keine diplomatischen Beziehungen mit Ägypten und Jordanien, deren Präsident (Hosni Mubarak) oder König (Hussein) jüngst erst Saddam Hussein ihre Aufwartung gemacht haben, so daß man im Nahen Osten von einer Achse Kairo-Amman-Bagdad spricht. Saddams Regierung redet vom Frieden, das Volk will ihn auch, aber die Kampfentschlossenheit tönt über je zwei Fernseh- und Rundfunkprogramme in alle Häuser. Und das Regime lädt dutzendweise Journalisten ein, auf daß sein Geheimdienst sich in der Aufgabe üben kann, diesen Journalisten die journalistische Arbeit so unmöglich zu machen, wie es eben geht.

Da wendet sich, ratlos, der Gast. "Sie hauen ab vor Khomeiny?" fragt amüsiert der Busfahrer. "Der wird schon wieder anklopfen mit seiner Rakete. Oben, in den obersten Stockwerken. Wo die Reichen wohnen." Grinst und gibt Gas.

Die nächste Rakete kam kurz vor zwei Uhr nachts.