Langer Einkaufsbummel am Roten Berg

Eindrücke von einer Reise in die chinesische Provinz Sinkiang

Frankfurter Rundschau, 15. November 1975
Über der dsungarischen Steppe reißt die Wolkendecke auf. Von der "Trident" der chinesischen Luftfahrtgesellschaft aus erkennt man dürren" braunen steinigen Boden. Kaum Spuren von Siedlungen. Dann liegt da ein Barackenlager neben einem Rollfeld - mitten in der Wüste, eine betongraue Piste führt schnurgerade ins Gelände, sie verliert sich im Dunst. Die chinesischen Begleiter werden aktiv: Hier darf nicht fotografiert oder gar gefilmt werden.

Das da unten, das Rollfeld, die befestigte Straße, die sauber ausgerichteten Baracken - hat das etwas mit der chinesischen Atomrüstung zu tun? Ist es vielleicht auch nur eine ganz gewöhnliche militärische Anlage? Die chinesischen Begleiter sagen, sie wüßten es nicht. Aber es darf nicht fotografiert werden.

Links ragen unvermittelt, direkt aus der Ebene aufsteigend, die Schneeberge des Tienschan auf bis zur Sechstausenderhöhe des Bogdo Ola. An ihrem Fuß hält sich noch dicker Nebel. Die Sonne steht zu tief, um ihn jetzt noch zerstreuen zu können. Während die "Trident" an Höhe verliert und der Druck in den Ohren zunimmt, sehen wir nun auch niedrige Häuser, Straßen, Pappelalleen.

Drei Grad am Boden, trockene Luft, kaum spürbarer Wind außer in einigen Böen. Die Sicht ist nun doch klar geworden. Unmittelbar hinter der Stadt beginnt schon das Bergland. Urumtschi liegt 912 Meter hoch, bis zur Paßhöhe, die Bahn und Straße ostwärts nach Tulufan und dann weiter über Hami (wo Chinas köstlichste Melonen geerntet werden, es ist gerade Saison), die Provinz Kansu bis nach Lantschou im fernen Kernland China bezwingen müssen, sind es noch einmal rund zweitausend Meter Höhenunterschied.

Vom Flugplatz rollen die Kleinbusse kilometerweit durch ebenes Gelände. Es ist rasch Nacht geworden. Urumtschi, eine der nördlichsten Städte der Volksrepublik China, liegt auf der geographischen Breite Südfrankreichs. Die Dämmerung ist deshalb spürbar kürzer als in Mitteleuropa. Spärliche Straßenlampen und die Scheinwerfer der Omnibusse leuchten die dreispurige Strecke aus. An beiden Seiten stehen Pappeln in Vierer- und Fünferreihen. Die Straßenfront der Bäume - sie sind kaum älter als zehn Jahre - ist bis in Kopfhöhe ;weiß gekalkt, Wegbegrenzung in Naturwuchs.

Künstliche Bewässerung hat die Straßenränder grün werden lassen: In kleinen Reservoirs am Fuß der Himmelsberge, des Tienschan, wird das. Wasser gesammelt und in die Stadt geleitet. "Nach der Befreiung", sagen die Einheimischen, ist das alles gemacht worden, "nach der Gründung des Uigurischen Autonomen Gebiets Sinkiang". Das sind zwei Daten, die stets wiederkehren: Befreiung 1950, im Jahr nach dem Sieg der Revolution in Peking; Gründung des autonomen Gebiets fünf Jahre darauf, erste Versuche einer regionalen Selbstverwaltung.

Hinter Mäuerchen, abseits der Straße, durch die Pappel-Viererreihen von ihr getrennt, stehen Lehmhäuser, einstöckig mit Flachdach, jedes für sich abermals von einer Mauer umgeben, alle Türen und Fenster dem Innenhof zugewandt. Bilder wie im sowjetischen Turkestan: das muß die Stadt der Uiguren sein, des Turkvolks, das mit den Usbeken auf der anderen Seite der Grenze eng verwandt ist. Nur sind hier die Mauern und die Häuser nicht weißgekalkt, sondern bräunlich und gelblich gefärbt, in der Farbe der Landschaft angepaßt.

Mao-Worte zwischen Pappeln

Losungen in chinesischer Sprache sind auf Torbogen und an Wände gemalt, weiße Schrift auf rotem Grund: "Lang leben die Mao-Tse-tung-Ideen"; "Baut das Grenzland auf und verteidigt es." In lateinischen Lettern und in uigurischer Sprache wiederholen sich "Mao zhuxi sozliridin üzünde", die Worte des Vorsitzenden Mao, der seinen chinesischen Titel auch unter den Turkestanern behalten darf - wie übrigens auch Bundeskanzler Helmut Schmidt in uigurisch-chinesischer Mischterminologie angesprochen wird. "Germaniye lienbang jumhuriyitining zonglisi Hermet Simit", etwas phonetisch verfremdet, aber noch erkennbar. Auf einigen Transparenten, von Pappel zu Pappel quer über die Straße gespannt, wird er mit denselben Begriffen herzlich begrüßt wie in Peking und Nanking, auf der Großen Mauer und in der Volkskommune Roter Stern, und hin und wieder gar in deutscher Sprache.

Die Straßen sind leer in den Außenbezirken. Maultierkarren, abseits der Straße einige zweihöckrige Kamele auf der Weide, von Pferden und von Kamelen gezogene gummibereifte Lastkarren, einige Lkws, Omnibusse, vom Zuschnitt der ungarischen "Ikarus"-Gefährte. Einsam scharren ein paar glückliche Hühner am Straßenrand. Dies ist eine Stadt von 800000 Menschen, doch noch glaubt man es nicht.

Ohne Übergang säumen mehrstöckige Steinbauten die Straße. Warenhäuser mit hell erleuchteten Schaufenstern, Käufergedränge noch um 22 Uhr Peking-Zeit - aber Sinkiang hat das Privileg einer eigenen Uhrzeit, es ist hier erst acht Uhr abends, und erst in einer Stunde werden die Läden schließen. Hier stehen sie auch Spalier, Han-Chinesen, Uiguren, Männer mit hängenden, dünnen Schnurrbärten wie aus den Bilderbüchern der Mongolenzeit.

In diesem Völkergemisch fühlen sich auch unsere Begleiter fremd, sie stammen aus so entfernten Gegenden wie der südlichen Provinz Fukien, aus der weit ins Gelbe Meer ragenden Halbinsel Schantung oder ganz einfach aus Peking. Sie alle bringen den Eindruck auf einen Nenner: Auslandsreise in den Grenzen der Volksrepublik China. Die Europäer sind ihnen in den Tagen der Reise etwas vertrauter geworden, ihre Reaktionen können sie schon berechnen. Vor den Fremden im westlichen Grenzland des eigenen Reichs aber stehen sie noch etwas beklommen, ratlos und scheinen sich zu wundern, wenn sie in gutem Pekinger Hoch-Chinesisch angesprochen werden von Menschen, die äußerlich mit ihnen doch anscheinend nichts gemeinsam haben.

Oder doch: "Unterdrückung und Ausbeutung waren die Ursache für die langdauernde Armut und Rückständigkeit der nationalen Minderheiten. Daher muß man, um die nationale Frage gründlich zu lösen, um das Antlitz der von den nationalen Minderheiten bewohnten Gebiete zu verändern und die verschiedenen Nationalitäten auf dem breiten Weg des gemeinsamen Wohlstands zu führen, entsprechend der Weisung des Vorsitzenden Mao die Klassennatur der nationalen Frage erkennen, an der grundlegenden Linie der Partei festhalten und die sozialistische Revolution zu Ende führen", sagt Saikiang.

Er ist ein Mann mit vielen Titeln: Kandidat des Politbüros, stellvertretender Vorsitzender des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses, Erster Sekretär des Gebietsparteikomitees des Uigurischen Autonomen Gebiets Sinkiang, Vorsitzender des Revolutionskomitees des Autonomen Gebiets und Erster Politkommissar des Militärbezirks Sinkiang.

Zu Saifudins Zeiten ist Urumtschi zur Großstadt gewachsen. Im Jahr der Befreiung: 75000 Menschen, meist in den beschriebenen einstöckigen Lehmbauten wohnend, zur Zeit des Regens und am Ende des Winterfrostes durch lehmige, abgrundtiefe Straßen eher vom Nachbarn getrennt als mit ihm verbunden. Ein paar Straßen mit Asphalt hatten die Russen nach 1900 angelegt, als sie sich "Ost-Turkestan" näher ansahen. Aber auch diese 1,6 Kilometer neuzeitlicher Verkehrseinrichtungen sollen 1950 in jämmerlichem Zustand gewesen sein.

Im 26. Jahr nach der Befreiung, anno 1975 im November: 120,94 Kilometer Asphalt in Urumtschi, 800 000 Menschen, in Zweizimmerwohnungen in vier- bis sechsstöckigen Häusern untergebracht. Wasserleitung und Kanalisation wenigstens in den Neubauvierteln. Grünflächen, die dichter und gepflegter wirken als die Kümmer-Rasen drüben im Sowjetischen, in Samarkand oder Buchara, Taschkent oder selbst Im subtropischen Duschambe.

Damals: Zehn Werkstätten, 895 Arbeiter. Heute: 550 Fabriken, 200 000 Beschäftigte in der lokalen Industrie. Damals Kleinbetriebe mit knapp 90 Mann im Mittel, vorherrschend noch Basargewerbe. Heute: Durchschnitts-Betriebsgröße 364 Mann, Textil-Großfabriken, Eisen- und Stahlindustrie, gar schon Elektronik für die regionale Postverwaltung, die in einem mächtigen Neubau hinter roten Granitfassaden zu Füßen der Pagode auf dein Roten Berg, gegenüber dem neuen und wohlbestückten Kaufhauses Roter Berg an einer beliebten Durchgangsstraße residiert.

Die Liste, die die chinesische Verwaltung herausgibt, nennt eindrucksvoll viele Landesprodukte: Roheisen, Walzstahl, Zement, Kunstdünger, Schädlingsbekämpfungsmittel, Werkzeugmaschinen, Traktoren, Motoren aus Urumtschi. Meist wird das für den Binnenmarkt von Sinkiang produziert. Kein Wunder; nur eine einspurige Eisenbahn führt vom Endpunkt Urumtschi-Hauptbahnhof nach Osten, in die Provinz Kansu. Nur eine Straße verläuft parallel dazu. Und beide sind erst in den fünfziger Jahren fertiggeworden.

Unterdessen plant Sinkiang für das Jahr 1985. Parallel zur 400 Kilometer entfernten sowjetischen Grenze soll in einem Jahrzehnt eine Tausend-Kilometer-Allwetterstraße von Kaschgar und Khotan quer durch die Wüste Taklamakan, am Trockenfluß Khotan-darja entlang, über die Stadt Kutscha, über den 3000-Meter-Paß Mallach Akdschi und den 2990-Meter-Sattel des Adunkur hinüber nach Urumtschi angelegt werden. Ein Modell im Ausstellungspalast zeigt, daß Urumtschi künftig nicht nur an Ost-West-Straßen entlang dem Tienschan liegen wird, daß es bald mehr als nur Stichstraßen nach Norden - etwa zu den reichen Ölfeldern von Karamai - geben wird.

Endlose Straßenwindungen

Straßen in den Tienschan bestehen schon. In endlosen Windungen, bis zu 40 Spitzkehren an fast senkrecht aufsteigender Felswand, schlängelt sich die befestigte Strecke bis zur Paßhöhe, 1400 Meter Höhenunterschied in vielleicht 20 Kilometern Luftlinie. Auch dies ist eine neue Verbindung - das Anfangsstück der Nord-Süd-Verbindung, die dreitausend Jahre alte Eselspfade ersetzen soll. Von der Paßhöhe an, vorbei an eiskalten Bergseen, ist es dennoch nur ein Saumpfad. In zehn Jahren soll er Straße sein.

Keiner zweifelt daran, daß die Pläne aufgehen können. Andererseits: Weder in Peking noch in Urumtschi ist konkretes Zahlenmaterial zu finden. Schon für die Kernlande des alten Han-Reiches gibt es kaum Statistisches. Die knappen Daten erinnern allzu sehr an klassische Tuschzeichnungen: Detailreich ausgemalter Vordergrund, hingehauchte Konturen, die dem Bild Tiefe und Stimmung geben, aber keiner könnte sagen, was Berg ist und was Wolke. "Chabuduo" - so ungefähr, "chabuli" - fast kein großer Unterschied. Das müßte der Titel statistischer Jahrbücher sein, wenn es sie gäbe.

Wo es politisch wird, wird es erst recht "chabuduo": Sinkiang hat, nach amtlicher Angabe, elf Millionen Einwohner. Recht seriöse westliche Quellen nennen Zahlen von acht bis fünfzehn Millionen. Die chinesische Angabe ist wenigstens realistisch. Aber: Vor zwanzig Jahren, bei der letzten Volkszählung, hatte Sinkiang 4.873.608 Einwohner, davon 3.640.125 Uiguren. Es war eine zu 75,2 Prozent türkische Provinz: Uiguren und Türken sind eng verwandt. Wäre dies noch so, die Zahl der Uiguren hätte auf 8,25 Millionen klettern müssen. Doch noch immer wird die Vier-Millionen-Zahl weitergegeben.

Außer den Han-Chinesen und den von ihnen nur durch den Islam unterschiedenen Hui (oder Dunganen) leben noch zehn weitere Volksgruppen in Sinkiang: Kasachen, Chalcha, Mongolen, Siobo, Tadschiken, Usbeken, Tartaren, Mandschau, Da'uren, Russen. Han und vielleicht - Hui sind sicher längst in der Mehrheit. Das ist ein Politikum. In den Reden der Offiziellen, in den Waschzetteln der Informationsstellen und in den Übersichten der einheimischen Literatur kommt es freilich nicht vor. Wie auch; "Verteidigung der nationalen Interessen" ist nur Klassenkampf von oben, vielmehr von da aus, wo früher oben war; Machination der Feudalherren, Herdenbesitzer und aller Reaktionäre, sagt der Vorsitzende Saifudin Sinkiang, "über zehn Millionen fleißige und tapfere Menschen der verschiedenen Nationalitäten" und "hauptsächlich Uiguren", wird ihm zur sozialistisch-revolutionären Idylle, chabuduo.

Unter dieser Decke steckt dramatische Historie. "Die Feudalherren", weiß Saifudin aus jenen Jahren zu berichten. "betrieben Sabotage und stifteten Unruhe, wobei sie die ihnen verbliebene politische, wirtschaftliche und kulturelle Macht oft unter einem nationalen und religiösen Deckmantel ausnützten. Sie schreckten auch nicht davor zurück, im Zusammenwirken mit den ausländischen Klassenfeinden konterrevolutionäre bewaffnete Erhebungen zu schüren, in dem Versuch, ihr verlorenes 'Paradies' zurückzugewinnen".

Der starke Mann unter den Uiguren rührt da ganz sacht an eine empfindliche Stelle. Noch 1962, zum Beispiel, sprachen die zentralen Pekinger Parteiorgane von "großangelegten Subversionsversuchen der KPdSU in der Ili-Region von Sinkiang". 50.000 Hui (oder Dunganen) haben im Frühsommer 1962 die Grenze zur UdSSR überquert - sie wurden verschleppt, sagen die Chinesen sie wollten mehr Freiheit, lassen die Sowjets durch den Edel-Flüchtling Zunun Tairow (früher Sinkiang, derzeit wohl Alma-Ata) von Fall zu Fall erklären.

In Wirklichkeit verhält es sich "chabuduo" so: China und Indien waren am Himalaya in einen blutigen Grenzkrieg verwickelt. Indien hatte auf Grenzen bestanden, die 1913 in Simla zwischen Tibet und Britannien abgemacht worden waren, ohne daß China gefragt worden wäre; China verlangte Anerkennung der vorherigen Grenze. Ebenso wie zwischen Bhutan und Burma wurde auch im Hochland von Ladakh gekämpft, wobei die indirekte - von Indien als prochinesisch gewertete - Beteiligung Pakistans alles nur noch komplizierte.

Nachschub per Seidenstraße

Im östlichen Vorland Tibets, Tjinghai, rebellierten gleichzeitig wieder einmal die Champa, die vorher schon die sonderbare Flucht des Dalai-Lama nach Indien so gut organisiert hatten, daß der höchste Würdenträger Tibets erst im indischen Darjeeling überhaupt betriff, wohin die Reise ging. Ob bei den Champa der sowjetische Geheimdienst KGB die Hand im Spiele hatte, muß Gerüchten überlassen bleiben; für eine Beteiligung des amerikanischen CIA scheint es Beweise zu geben.

Nachschub nach Ladakh konnte von Ost-China unter diesen Umständen eben nur auf dem langen Weg transportiert werden: per Seidenstraße bis in die Gegend von Urumtschi, an der Sowjet-Grenze entlang im weiten westlichen Bogen bis zum Kampfgebiet, fünftausend Kilometer Umweg, ein bißchen schwierige Logistik. Der westliche Nachbar UdSSR, mit Indien seit dem BC-Besuch (Bulganien und Chruschtschow 1957) liiert und im Flirt mit anderen Bündnislosen gefangen, sprang mit einem Schuß Nationalismus auf turkestanisch den bedrängten Landsleuten Jawahralal Nehrus bei.

Dieser - soweit bekannt, bisher letzte - Aufstandsversuch nationalistischer Gruppen und Kreise in Sinkiang endete mit dem Exodus der 50 000 gen Kasachstan. Flucht oder Verschleppung - es war ein (von Exilleuten in Alma-Ata gerühmter) Akt der sowjetischen Fairneß, Mitkämpfer nicht den chinesischen Genossen zu überlassen.

Viel Hintergrund für einen dürren Satz des Multi-Funktionärs Saifudin - aber die Geschichte ist so. Nun soll sie sich aber nicht wiederholen, die Volksmassen sollen bitte nicht auf die Lügen und Manöver der "Klassenfeinde im In- und Ausland" hereinfallen, schreibt Saifudin. Gibt es eine bessere Garantie als möglichst viele Han-Chinesen im Uigurischen Autonomen Gebiet Sinklang?

Freilich, rascher Zuwachs an Leuten, die keine türkische, keine mongolische, sondern eine nordchinesische Mundart sprechen, mag den Uiguren, Kasachen, Usbeken, Tartaren und die ganze lange Liste hinunter nicht geheuer sein. So werden ihnen denn Zugeständnisse gemacht. 65 Prozent der Kader-Positionen sind den nationalen Minderheiten vorbehalten, und die Partei hat so nachhaltig geworben, daß sie die Mitgliederzahl unter den Nichtchinesen seit 1955 um das Sechsfache gesteigert hat. Und gibt es im weiten Kernland China zum Beispiel eine Jahreszuteilung von sieben Meter Baumwollstoff, so kann ein Uigure neun Meter beziehen.

In Peking sind Südfrüchte und Chinakohl, Fleisch und Gemüse in diesen Tagen reichlich zu haben, und die Warenhäuser wie die kleinen Straßenläden lassen nun eben nicht auf Mangel am Notwendigen schließen. Aber das Roter-Berg-Kaufhaus in Urumtschi, in das wir Journalisten aus dem fernen Westen unvermutet eindrangen, zeigte Fülle wie in manchem Vorort westlicher Großstädte. Die Turkestaner haben dabei gewiß keinen Türken gebaut. Die Transportmittel hätten kaum ausgereicht, über 4500 Kilometer schwieriger Straßen und einspuriger Eisenbahn Massengüter aus Chinas Nordosten heranzukarren.

Über diese Straße rollt nämlich auch das Öl von den alten Bohrstellen bei Karamai und Tuschanzi; da werden Erze und Maschinen, Uran und Traktoren quer durchs Land gefahren, da sind einspurige Eisenbahn und einzige Landstraße maßlos überlastet. Und schließlich ist dieses Land, das so groß wie die ganze EG und noch 100.000 Quadratkilometer mehr, vollauf damit beschäftigt, das zu tun, was Saifudin nennt: "Die Volksmassen aller Nationalitäten (wollen) Sinkiang zu einem ehernen Bollwerk der Bekämpfung und Verhütung des Revisionismus an der Nordwestgrenze unseres Vaterlandes machen."

Wohl, die Revisionisten sind nicht fern. Sie haben auch Spuren hinterlassen. Zuerst ein kyrillisches Alphabet, wie das für die Usbeken drüben in Taschkent und Samarkand, mit dem man auch Uigurisch schreiben kann; China lehrt die Uiguren seit 1959 lateinisch schreiben. Auch Hotels stehen noch in Urumtschi, von denen wenigstens eins von sowjetischen Beratern entworfen und nach ihren' Plänen gebaut worden ist.

Die Fahrstühle in jenem Hotel, das dem "Minsk" in Moskau so sehr ähnelt, sind noch russisch beschriftet. Aber anders als im "Minsk" ist es auch: Alle Fahrstühle funktionieren, die Badewannenverschlüsse schließen, heißes Wasser kommt aus dem Hahn für Heißwasser und kaltes aus, dem Kaltwasserhahn, Briefmarken sind keineswegs ausverkauft, die Bedienung ist freundlich. "Jetzt weiß ich", kalauert ein Deutscher mit seiner chinesischen Dolmetscherin, "warum die Russen solche Angst vor Euch Chinesen haben. Sowjetische Fahrstühle in Betrieb zu setzen, erfordert nämlich eine ganze Menge Sachverstand und Können." In Moskau habe hingegen die Firma Hochbetrieb, die das wichtigste Zubehör produziert: das Schild mit der Aufschrift "Außer Betrieb".