Schiffbrüchige des Sandmeeres

Der langsame Tod der Tuareg

Frankfurter Rundschau, 20. Oktober 1973
Die Sendetürme des Staatsfunks der Republik Niger weisen den Weg. Sie stehen am Rande der asphaltierten Straße in den Nachbarstaat Mali, knapp außerhalb der nigrischen Hauptstadt Niamey. Dreitausend Tuareg, Nomaden aus Mali, haben ihre Zelte hier aufgeschlagen, neun Familienkreise. Dem Jeep; der vor dem Rotkreuz-Zelt anhält, nähern sich zuerst die Kinder mit gemessener Neugier. Ein halbes Dutzend Europäer klettert aus dem Fahrzeug. Sie registrieren. Das ist ein Beduinencamp, wie sie es seit Menschengedenken am südlichen Rand der Sahara und an deren nördlichen Ende gibt.

Aber es gibt hier keine Herden mehr. Nur einige Kamele stehen noch in der Vormittagshitze herum, ein paar Ziegen weiden. Das Gras ist jetzt, ein paar Tage nach dem Ende der Regenzeit, schon spärlich geworden.

Die Kinder sprechen die Besucher auf französisch an. Dann kommen auch die Älteren näher. "Ihr müßt das alles fotografieren. Ihr müßt uns helfen. Nur ihr könnt uns helfen."

"Was fehlt?"

"Arbeit. Wir sind stolz, wir sind stark, wir können arbeiten. Wir brauchen Arbeit, wir brauchen Geld, um das Nötigste zu kaufen. Wir können Französisch sprechen, wir können Wächter sein, wir sind stolz und stark. Wir haben keine Herden mehr."

"Wo sind die Herden geblieben?"

Der Chef eines Familienkreises, eines Verbandes von dreihundertfünfzig Menschen, ist zu der Gruppe getreten. Ein alter Mann im blauschimmerrnden Umhang, im schwarzen Turban, den Mund hinter einem schwarzen Tuch verborgen, das den Staub und den Sand der Wüste abhält. Er nimmt das Mundtuch herunter und redet. Er spricht Tamaschek, die Tuareg-Sprache; ein jüngerer Mann dolmetscht.

Vertrauen auf Allah

"Wir sind vor sechs Monaten hergekommen. Wir hatten unsere Herden noch. Sie sind hier gestorben. Allah hat sie uns genommen. Allah wird sie, wenn es ihm gefällt, uns wiedergeben."

Ihre Weidegebiete in Mali haben sie im letzten Jahr drei Monate vor der Zeit verlassen. Die Kälber waren noch zu schwach, die Kühe zum Teil noch trächtig. Die Weide weit im Norden aber war verdorrt. Man mußte wandern, nach Süden, wo es noch Gras gab und Wasser. Es hatte zu wenig geregnet, es war nichts mehr nachgewachsen. Das Leben der Nomaden war aus dem Rhythmus geraten.

Im vergangenen Jahr verendeten Teile ihrer Herden auf der Strecke; geschwächt kamen die überlebenden Tiere viel zu früh am Nigerfluß an. Die Tuareg haben sie verkauft. Zuletzt haben sie noch tausend CFA-Franken für eine Kuh bekommen; nicht viel mehr als zwölf Mark. Nigrer haben das Vieh gekauft, Leute aus Niamey. Nun treiben sie die Herden jeden Tag zweimal am Tuareg-Camp vorbei zur Wasserstelle. Die Tiere sehen kräftig aus, sie haben sich erholt; aber sie gehören denen nicht mehr, die von ihnen gelebt haben.

"Allah hat sie uns genommen. Allah wird sie uns wiedergeben."

"Wovon lebt ihr?"

"Man gibt uns ein Kilo Sorgho (Grobhirse) in der Woche, oder ein Kilo Milchpulver. Wir können uns nichts mehr kaufen. Wir brauchen Arbeit."

Der alte Mann spricht ohne Pathos. Würdig, langsam übersetzt der jüngere. "Wir haben nicht genug zu essen. Und es gibt hier alle Arten von Krankheiten. Masern, Malaria, Trachom. Schon am Schnupfen sterben die Kinder. Sie haben keine Kraft mehr gegen die Krankheit."

Es kommt kein Wort der Klage über die Lippen des Alten. Ich frage ihn. "Habt ihr noch Hoffnung?" Die Frage versteht er gar nicht. Er hat sich in sein Schicksal ergeben, aber er weiß auch, daß er und sein Stamm am Ende sind. Allah hat es so gewollt, Allah wird es, so er will, auch wieder ändern.

Das erschreckt den Besucher am meisten: Die unendliche Würde, der Mangel an jeglicher Auflehnung gegen die Katastrophe, die sie doch alle Tag für Tag vor Augen haben. Die Ruhe, mit der sie es hinnehmen, daß nebenan in der Stadt die Menschen leben, arbeiten, essen, den Gestrandeten im Camp nicht beistehen: Sie im Flüchtlingslager sind Ausländer aus Mali.

Die nigrische Regierung kann nichts für sie tun; die malische auch nicht, sie ist weit. Die Flüchtlinge können nur von Spenden leben. Selbst wenn sie heute ihre Herden zurückbekämen: Ihre Weiden sind verdorrt. Und sie brauchten zehn Jahre, bis sie die Herden wieder zu einstiger Größe entwickelt hätten. Ihr Leben wird nie wieder, wie es war - wenn sie überleben, und das können sie nur mit Hilfe aus dem Ausland.

Am Rande der Piste nach Norden, nach Quallam, einem Verwaltungssitz, zieht sich die Strecke hin, auf der die Herden an die Wasserstellen wandern, Herden, die denen fehlen, die von ihnen gelebt haben, von ihrem Fleisch und ihrer Milch. Wir überholen einen Trupp Ziegen. Der Hirt treibt sie von der Piste seitwärts in die Savanne. Er wirft seinen Stab voraus, gehorsam biegen die Tiere ab.

Nach zwei Stunden sind wir in Ouallam. Agbessou, der Sekretär der Einheitspartei PPN (Progessistische Partei Nigers), gibt uns Auskunft. "Dies war früher die Kornkammer Niameys. In normalen Jahren haben wir 1500, ja 2000 Tonnen in die Hauptstadt geliefert. Im letzten Jahr aber haben wir zweitausend Tonnen erhalten und verteilt oder verkauft. Wir sind ein Zuschußgebiet geworden. Wir brauchen jetzt mindestens zwei gute Ernten, damit die Gesundheit der Menschen wieder hergestellt wird und damit auch der Viehbestand wieder auf ein vernünftiges Maß kommt, Hier in Djermaganda war früher um diese Zeit, am Ende der Regenzeit, die Hirse billig; da hat man 800 CFA-Franken für hundert Kilo bezahlt. Der Preis müßte jetzt auf dem niedrigsten Stand angekommen sein. Der Höchstpreis, kurz vor Anfang der Regenzeit, war früher 2500 Franken. Jetzt hat er sechstausend Franken erreicht." Das sind 75 Mark. Das durchschnittliche Einkommen eines Nigres reicht bei diesem Preis im Jahr für 400 Kilogramm Hirse aus, nichts anderes könnte er kaufen.

"Wir haben vom 3. Mai bis zum 5. August 847 Tonnen Nahrungsmittel gratis verteilt. Zweihundert Tonnen Mii (Feinhirse), 200 Tonnen Sorgho (Grobhirse), 150 Tonnen Mais, 150 Tonnen Bohnen, 47 Tonnen Mehl und Maismehl, 100 Tonnen Milchpulver. Und fast 1200 Tonnen haben wir verkauft. Da kamen die Transportkosten wenigstens wieder herein. Das alles nur im Gebiet von Quallam."

Sieben Verteilungsstellen sind in der Subpräfektur Quallam eingerichtet worden, keine weiter als 15 Kilometer von den Dörfern entfernt. Es gibt keine Kamele mehr, die die Lasten weiter transportieren könnten. Und wer mit seinem Esel zur Verteilungsstelle kommt, der muß auch Heu mitnehmen. Es gibt keine Weide mehr.

Dies war früher ein reiches Gebiet, vor fünf Jahren noch.

"Wir versuchen, jeden Tag 300 Gramm Nahrungsmittel pro Kopf zu verteilen, je nach den Lieferungen, die wir bekommen. Wir haben eine Kommission gebildet, die je nach Notlage zuteilt; wenn es drei Kilo im Norden gibt, dann gibt es ein Kilo im Süden. 1974 wird es noch viel schwieriger werden", sagt Sekretär Agbessou.

"Es hat zu wenig Regen gegeben. Ich bin im Norden, im Osten, im Westen, im Süden gewesen, wo ich auch genau zu derselben Zeit im letzten Jahr herumgereist bin. Überall sind die Felder verbrannt, überall sind die Weiden trocken. 1973 war noch ein viel besseres Jahr, und wir haben schon zweitausend Tonnen gebraucht."

Hier im Norden von Djermaganda, dem Land der Djerma (Nigers zweitgrößte Volksgruppe, eng verwandt mit den Sunghai, die zu beiden Seiten der malischen Grenze leben, Ackerbauern, Sudan-Neger mit Berber-Einschlag), sind die Herden der Tuareg verendet. Deutsche Brunnenbohrer, die aus 80 bis 140 Metern Tiefe Wasser gefördert haben, fanden an den Tränken sogar tote Esel, und Esel sind widerstandsfähige Tiere.

Fünfzig Kilometer nördlich vom Dorf und Verwaltungssitz Quallam gibt es einen artesischen Brunnen, ein paar Dutzend Kilometer von der Grenze Malis entfernt. Dort haben sich, zeitig im Jahr, die Herden der Tuareg gesammelt. Es hat genug Wasser aus der Tiefe gegeben, auch in der Trockenzeit. Aber Ziegen und Rinder, Kamele und Schafe haben die Weide rund um die Tränke abgefressen und zertreten, in immer größerem Abstand von der Tränke erst Nahrung gefunden, bis der Weg von der Wasserstelle zur Weide über ihre Kräfte ging. Und weil die Ernte schlecht war, gab es keine Baumwollkerne mehr, die man hätte verfüttern können. Quallam ist eine reiche Subpräfektur gewesen.

Masern sind in diesem Jahr ausgebrochen, Diarrhöe, Malaria. Die Ärzte - es gibt wenige (nur 18 Einheimische im ganzen Riesenland, dazu etwa 45 Europäer) - haben noch keinen Fall von Hungertod gemeldet. Aber die Menschen sterben an Krankheiten, die sie sonst ohne Komplikationen überstanden hätten. Sie sind zu schwach geworden.

Im Dorf Quallam stampfen Frauen Hirse mit langen Stößeln. Hirse, Sorgho oder auch Mii, wächst noch in weitem Umkreis, aber sie ist nur eben kniehoch geworden, die Rispen tragen nicht viele Körner. Der noch junge Mann, der in einer Schilfhütte sitzt und das Sorgho-Feld der Partei bewacht, kann seinen rechten Arm nicht heben, der ist verkrüppelt: Kinderlähmung.

Der traditionelle Dorfchef von Quallam, Scheich Abdul Osman, bringt kein Wort der Klage über seine Lippen. Aber er dankt den Europäern für die Hilfe, die sie gestiftet haben. Ein deutscher Journalist war vor Monaten hier. Er hat uns für eine Familie fünftausend CFAFranken mitgegeben, sechzig Mark. Überglücklich verbeugt sich die Mutter der Familie, schüttelt uns die ,Hände, wünscht Allahs Segen auf uns herab.

Fast zwei Stunden brummt Nigers Stolz der Luftflotte, eine viermotorige DC-6, nach Nordosten Richtung Agades. Bis Tahoua, auf halber Strecke, ist das Land noch ein wenig grün. Dann beginnt die Wüste. Vierhundert Kilometer Sand und Laterit; gelbe und rote Erde, auf der nichts mehr gedeiht. Erst kurz vor Agades wird die Erde wieder schüchtern grün. Aber der Mann vom Protokoll, der neben mir in der Maschine sitzt, ist entsetzt. "Jetzt nach der Regenzeit ist es natürlich grün. Aber es müßte viel grüner sein. Es wird ein schlechtes Jahr, auch hier."

Rund dreißig Kilometer im Südwesten von Agades ist mit ausländischer Hilfe in Korboubou ein Brunnen angelegt worden. Jetzt, da die Trockenzeit eben beginnt, liegt der Wasserspiegel 25 Meter tief. In der Trockenzeit werden es mehr als vierzig Meter sein. Ziegenherden, Rinder, Kamele warten Abstand, bis sie an der Reihe sind. Sie gehorchen. Und inzwischen trampeln die Kamele die spärlichen Grasreste platt, fressen die Ziegen das junge Grün, eher Graugrün, von den Bäumen ringsum.

Eine gute Stunde weiter am Wege ist ein Gehege aus trockenen Dornensträuchern aufgebaut, ein Halbkreis, an der offenen Seite zu einem parallelen Zaun verlängert. Im Mittelpunkt des Halbkreises sind Säcke aufgestapelt, Geschenk der USA. Sorgho, Rispenhirse. Nur in den USA ist dieses Getreide, das am besten zu den Nahrungsgewohnheiten der Tuareg paßt, noch zu haben. Es wird nach Lagos oder Port Harcourt in Nigeria verschifft, mit der Eisenbahn in den Norden Nigerias, nach Kano, transportiert und muß dann nach Agades. Von dort kommt es an die insgesamt 40 Verteilungsstellen.

Oberstleutnant Elmar Schlottmann vom Rendsburger Lufttransportgeschwader 63 ist der Leiter der Bundeswehr-Einsatzgruppe, die mit zwei Transall-Maschinen und vier Mannschaften in pausenlosem Einsatz während der Regenzeit die Hilfsgüter nach Agades transportiert hat. Es gab Tage, da er 18 Flugstunden hinter sich brachte.

Bis zu zwölf Tonnen kann eine Maschine morgens beim ersten Flug transportieren. Bei der Mittagshitze in Kano zur Regenzeit sind es nur noch acht Tonnen. Die Triebwerke haben nicht mehr genug Kraft. Sie verlieren unter dem Einfluß von Hitze und Luftfeuchtigkeit an Leistung. Für Nachtflüge aber fehlen alle Voraussetzungen. Am ersten Oktobersonntag ist die überforderte, überarbeitete Bundeswehr-Mannschaft nach Deutschland zurückgekehrt. Die Pisten nach Agades, zur Regenzeit unpassierbar, sind wieder frei. Jetzt kommen Lastwagen.

Außerhalb des Dornen-Halbkreises an der Piste haben sich zweihundert oder dreihundert Nomaden versammelt. Abseits an der Wasserstelle halten ihre letzten Kamele. Früher hatte jede Familie deren zweihundert oder dreihundert, aber gezählt wurden sie nie: Die große Zahl war der Stolz, die exakte Zahl bedeutete Steuerzahlung. Nun sind jeder Familie höchstens noch zwei Tiere verblieben.

Ein Schreiber notiert gewissenhaft, was hier an wen verteilt wird. Mit Säcken sind die Tuareg aus ihren Zelten gekommen. Sie werden aufgerufen, für jeden gibt es eine Dosenfüllung Sorgho, 400 Gramm, von denen ein Drittel Schale und Spelzen sind. Es sol!en täglich tausend Kalorien ausgegeben werden, meistens Sorgho, wenn es gibt auch Milchpulver (zwanzig Gramm pro Kopf, das macht zweihundert Gramm Milch).

Die Herden sind verendet. Die Nomaden erinnern sich ihrer Geschichte. Da vermittelten sie den Transport durch die Wüste von Agades und vom legendären Timbuktu nach Ghardaia in Algerien, nach Mursuk in Libyen, ins verschollene Sidjilmassa in Marokko; aber es gibt nun die Transsahara-Piste, es gibt Straßen in die Salmen von Bilma und Taoudenni. Ein Lastwagen ersetzt dreihundert Kamele, abgesehen davon, daß er schneller ist.

Auch die Tage der Raubzüge gegen fremde Karawanen sind vorbei, vergangen wie die Zeiten, in denen Nomadenstämme gegen gebührende Getreidelieferungen Qasen und Dörfer im Sahel bcschützten. Nur die Tiere waren ihnen noch geblieben, und die sind nun tot.

Daran ist auch die weiße Menschheit schuld. Sie hat die Medizin in die Wüste gebracht: die Rinderpest und (im Süden) die Schlafkrankheit wurden unter Kontrolle gebracht; die Kinder sterben nicht mehr, die Alten werden älter. Die Zahl der Menschen und Tiere hat sich in der Sahel-Randzone vergrößert.

Die Ziegen sind die erbittertsten Feinde des Pflanzenbestandes. Sie klettern auf die Bäume, sie fressen das junge Laub weg und auch die dornigen Sträucher, die jedes andere Vieh verschmäht. Wie die Heidschnucken im Mittelalter die Gegend zwischen Lüneburg und Celle kahlgefressen haben, bis nur noch Heidekraut gedieh, so vernichten die Ziegen der Sahel-Zone dort die Vegetation. Aber dort rückt nicht Heide nach, dort folgt die Wüste.

In Niger, sagen Experten, ist in den letzten Jahren die Sahara über hundert Kilometer weit nach Süden gewandert, in der gesamten Sahel-Region um rund zehn Kilometer im Jahr oder um 50 bis 70 Kilometer seit Beginn der Dürre. Bei einer Ost-West-Ausdehnung der Region von 6500 Kilometern sind jährlich 65 000 Quadratkilometer, zusammen fast 400 000 Quadratkilometer, an die Sahara verlorengegangen. Jedes Jahr die Fläche Bayerns, insgesamt mehr als die Fläche der beiden deutschen Staaten und der Niederlande zusammen. Das war kein Ackerland, das war "sol nomade", Gebiet, in dem nur Wander-Viehwirtschaft möglich war. Aber es war das Lebensgebiet von über einer Million Menschen.

Sie sind ins Ackerland gezogen, nach Süden; denn auch die Anbauzone ist vor der anstürmenden Sahara, dem Harmattan (Trockenwind) mit seinen Sandfrachten und seinem Gluthauch, zurückgewichen. Aber die Haussa- und Djerma-Bauern haben sich nicht wehren müssen. Weil es acht Jahre lang zu wenig Regen gegeben hat, weil Ziegen und andere Haustiere das Land überweidet haben, sind die Nomaden nun am Rand der Kulturzone gestrandet, Schiffbrüchige des Sandmeeres.

Keine Hoffnung auf Rückkehr

Man hat sie nicht gezählt. Man schätzt, daß 50 000 in Obervolta auf die Änderung des Ratschlusses Allahs hoffen, je 100 000 in Mali und Niger, 200 000 in Mauretanien. Sie wollen wieder nomadisieren, zurückkehren in ihre archaische, aber organisierte, dem Wüstenleben angepaßte, als Wirtschaftsform einzig mögliche Lebensweise der Randzone. Doch über 800 000 - nicht in Niger, wohl aber in Mauretanien, Senegal, Mali - wissen schon, daß sie nie zurückkehren können.

Siebzig Kilometer südwestlich von Agades ist vor fünf Jahren ein künstlicher See geschaffen worden, Tiguerwi-See mit Namen. Ein Erddamm riegelt ein Trockental ab, fängt das Wasser der Regenzeit auf; jetzt ist der See drei Kilometer breit und zehn Kilometer lang. Jeden Tag verdünstet aus der flachen Pfanne so viel Wasser, daß der See-Spiegel um einen Zentimeter sinkt. Im Februar wird der Tiguerwi-See wieder trocken sein. Einen halben Meter tief wird der Lehmboden austrocknen und aufreißen, bis im Juni oder Juli wieder Wasser vom Himmel fällt.

Hier siedelt Niger Nomaden an. Das Flüchtlings-Hilfswerk der UN und ihre Entwicklungsorganisation (UNDP) haben sich beteiligt. Im Staubwind, der im Nu die Lippen austrocknet und roten Latentstaub durch die Kleider bis tief in die Poren wirbelt, bei vierzig Grad trockener Hitze, ohne Schatten und ohne Kühlung graben Tuareg vom Igdalen-Stamm Kanäle in die tote Erde. Sie sind ein religiös definierter Stamm, sprechen nicht Tamaschek, sondern Arabisch, und schreiben mit arabischen Zeichen statt in der Tifinar-Schrift, die die nigrischen Behörden auf die Bleche der Jeeps - Schenkungen aus Libyen, aus Hessen, vom Bund, von anderen Staaten - gepinselt haben. Sie sollen seßhaft werden, und wie es scheint ist ihr Führer, Robdouan, mit dieser Abkehr von allen Traditionen einverstanden.

Im November 1972 erzählt uns Christiane aus Deutschland, die mit einem UN-Beamten verheiratet ist und seit zwei Jahren in Agades wohnt ("Wo ich zu Hause bin? In Agades. Ach, ich weiß es auch nicht. ich bin seit 15 Jahren draußen"), im November 1972 hat es den ersten Anbauplan gegeben. Auf 30 Hektar ist Weizen gesät worden. Die Frucht hat die Menge des Saatguts 42mal übertroffen, "das sieht nicht nach einem großen Erfolg aus, aber es ist viel, für diese Verhältnisse." Nächstes Jahr sollen es 300 Hektar sein, dann 600. Es werden 1200 Familien hier leben. Die Weizenernte wird für jede von ihnen ein halbes Jahr lang reichen.

Auch Sorgho, Rispen- oder Grobhirse, wird gerade angebaut. Ist im Oktober, Ende des Monats, die Ernte gut, so sind weitere Nahrungsmittel gewonnen; ist sie nicht gereift, so gibt es wenigstens Viehfutter. Auf jeden Fall folgt dann die Weizensaat. Im Februar, wenn der Tiguerwi-See ausgetrocknet ist, muß geerntet werden.

Aus dem See trinken Menschen und Tiere; Brunnen sind außerdem nötig. Der See ist nicht sauber. Langsam sinken die Exkremente der durstigen Kamele auf den flachen Grund. Aber es gibt wenigstens keine Bilharziose, jene fürchterliche Wurmkrankheit, die sich sonst im tropischen Afrika an stehenden Wassern vom Nasser-See hinter dem Assuan-Damm bis zum südlichen Wendekreis ausbreitet.

Für die Tuareg gibt es keine Rückkehr in die Vergangenheit. In den Lagern am Rand Niameys in Niger, in Mauretanien und in Mali, überall dort, wohin die Dürre und ihre von der menschlichen Gesellschaft verstärkten Folgen sie verschlagen haben, sterben sie langsam dahin, abhängig von der humanitären Hilfe der reichen Länder, angewiesen auf milde Gaben, nahe dem Hungertod, abgeschnitten von ihrer Geschichte, ihren Traditionen und ihrer nationalen Identität. Plötzlich zählt es nämlich, ob einer aus Mali stammt oder aus Niger.

Dem Nomaden aus Mali hilft Niamey nicht. Und wenn ein malisches Militärkommando - wie unlängst in Quallam - in Zusammenarbeit mit nigrischen Behörden wenigstens einige Nomaden zur Rückkehr überreden kann, so vegetieren sie auch im Heimatstaat in Lagern weiter. Sie sterben aufrecht, oder sie vegetieren mit Würde weiter dahin. Eine Zukunft haben die meisten von ihnen nicht mehr. Seit auch in ihrer Region Uran gefunden und von fremden Gesellschaften abgebaut wird, dringt die Industriegesellschaft in ihren Lebensbereich ein. Eine unbarmherzige Geographie drängt sie nach Süden zurück. Eine ebenso unbarmherzige Gesellschaftsordnung nimmt ihnen vom Süden her die Lebensgrundlage. Sie können sich in die neue Gesellschaft integrieren, wenige von ihnen werden noch eine Zeitlang Nomaden sein können. Aber auf lange Sicht bleibt ihnen nur eine Wahl: Tuareg zu bleiben und langsam zugrunde zu gehen, oder sich den neuen Gegebenheiten anzupassen und die eigene Identität aufzugeben. Es ist die Wahl, vor der vor zweihundert Jahren die Indianer Nordamerikas gestanden haben.