Der Traum der Khmer

Die Tempel von Angkor

Frankfurter Rundschau, 22. August 1970
Die Ruinenstadt soll den Krieg überleben. Kambodschas Militärregierung, die Junta Lon Nol/Sirik Matak will den Kampf um die Tempel der Hauptstadt des versunkenen mittelalterlichen Khmer-Staates, Angkor Vat, anscheinend doch nicht aufnehmen. In Angkor herrschen seit Wochen die "Neue Sihanuk-Armee", Nordvietnamesen, FNL-Kämpfer, kambodschanische Anhänger Sihanuks. Die Junta will sie nicht aus der Ruinenstadt vertreiben. Angkor ist ein nationales Symbol, der letzte Zeuge historischer Größe, und ihn im Kampf zu vernichten, kann sich keine kambodschanische Regierung erlauben.

Die Junta in Pnom Penh kann es am wenigsten. Sie hat den Prinzen Sihanuk gestürzt, der im Volk noch immer ein ungeheures Ansehen hat, und sich so aus einer historischen Tradition gelöst, die zum Lebensinhalt des Volkes gehört; sie hat sich auf südvietnamesische und amerikanische Truppen gestützt, Eindringlinge und Besatzer (vor allem die Südvietnamesen), die mehr Schrecken als Freiheit um sich verbreiteten; sie ruft nun auch noch Thais ins Land, und jeder Schüler in Kambodscha weiß doch, daß Thais und Vietnamesen einmal das große Reich der Khmer mit Waffengewalt zerstört haben; sie hat schon zugelassen, daß eine weitere alte Hauptstadt des Khmer-Reichs, Udong, mit ihren alten Baudenkmälern dem Krieg zum Opfer fiel - genau: den Bomben der Junta. Schon in den ersten Tagen der amerikanischen Invasion war, wie es heißt, in Takeo das älteste Gebäude auf südostasiatischem Gebiet zerstört worden (von Amerikanern), das Asram Maha Rosei, über 1300 Jahre alt, 1100 Jahre älter als die USA. Und nun Angkor?

Auf Angkor ist schon geschossen worden. Ob die Ruinenstadt den Krieg übersteht, ist eine makabre Frage; die Rettung Angkors wäre, ein Wunder. Daß kambodschanische Soldaten die Tempelstadt respektieren werden, ist wohl anzunehmen, wenn auch nicht sicher; daß Thais und Südvietnamesen so viel Taktgefühl gegenüber der Geschichte ihres Erbfeindes aufbringen werden, ist kaum zu erwarten.

Die Geschichte der letzten fünfhundert Jahre ist jedenfalls von Auseinandersetzungen zwischen den Khmer und den sie umgebenden Thais und Vietnamesen gekennzeichnet. Die Khmer, das kambodschanische Staatsvolk, sind die älteste Kulturnation in Südostasien. Kambu, ein asketischer Einsiedler, soll der Stammvater des Khmer-Volkes gewesen sein, die Dynastie von den Sonnenkönigen, dem Sonnengott, abstammen. So will es die mythische Überlieferung. Stammgebiete waren die südlichste Provinz von Laos-Champasksa und die Region der nördlichsten kambodschanischen Stadt, Stung Treng - eine Gegend, die heute fest in der Hand Sihanuks ist. Von Stung Treng und Champassak aus wurde das Land geeint, und in der Zeit Jayavarmans I. erreichte es vor 1300 Jahren unter dem chinesischen Namen Chen-la seine erste Blüte.

Schon "arabische" Ziffern

Die Inschriften aus jener Zeit sind ,schon in der Sprache der Khmer abgefaßt; die älteste Inschrift, die bekannt ist,, wird von Historikern auf das Jahr 609 datiert; sie berichtet von der Einigung des Landes und bedient sich schon "arabischer" Ziffern - eigentlich indischer Zahlzeichen, die im neunten Jahrhundert von den Arabern übernommen und seit dem zwölften Jahrhundert auch in Westeuropa verbreitet wurden.

Chen-la muß ein dichtbesiedeltes Land gewesen sein. Jayavarman I. führte die Kavallerie ein, entwickelte eine Taktik gegen Elefantenangriffe, war überdies als Musiker und Tänzer berühmt - König und Musensohn wie sein später Nachfolger Sihanuk. Sein Reich war noch indisch geprägt; damals gab es in Kambodscha alle hinduistischen Lehren und Richtungen, andere Kulte (Harihara, der zwei indische Götter - Schiwa und Wischnu - in sich vereinte) und auch ein wenig Buddhismus waren zu jener Zeit in Chen-la verbreitet. Die religiöse Vielfalt deutet auf enge Handelsbeziehungen zu Indien und Java hin.

Nach Jayavarman I. waren die Blüte der Kultur und die staatliche Einheit Chen-las zunächst dahin. Um 700 wurde das Land geteilt. Der Süden geriet in den Machtbereich Javas ("See-Chen-la"); der Norden behauptete sich als freier Staat und war 722 mächtig genug, einem annamitischen Aufstand (im heutigen Nordvietnam) gegen die chinesische Herrschaft beizustehen. Ungefähr in dem Jahr, als Karl der Große in Rom zum Kaiser gekrönt wurde (800), vielleicht auch zwei Jahre später, kam in ,,Berg-Chen-la" der Einiger des Landes, wieder ein König namens Jayavarman, der zweite von insgesamt sieben, an die Regierung. In den rund 50 Jahren seiner Amtszeit brachte er wieder ganz Südindochina unter eine einheitliche Herrschaft, und zu seiner Zeit wurde auch Angkor die Hauptstadt des Reiches.

Angkor bot sich als Zentrum an, denn es war der Hauptort eines reichen landwirtschaftlichen Gebietes (Dschungel breitete sich erst Jahrhunderte später dort aus),- brachte Reisernten hervor, die auch für den Export noch reichten, war nahe dem Binnensee Tonlé Sap, dessen Fischreichtum berühmt war, und lag an der Handelsstraße zwischen den beiden großen Strömen Menam und Mekong. "Er setzte sich auf die Löwen, die seinen Thron schmückten, er legte seine Herrschaft Königen auf, er residierte auf dem Gipfel des Mahendra-Berges - und trotz alledem, in ihm war kein Stolz", heißt es, in einer Inschrift, die so etwas wie ein Nachruf war. Der Mahendra-Berg galt in ganz Südasien als Mittelpunkt der Erde.

Unter Jayavarman II. entstand die Staatsreligion, Staatstheorie in religiöser Verkleidung, die vier Jahrhunderte lang verbindlich für das Khmer-Reich blieb. Die Züge einer Priesterherrschaft bildeten sich heraus; die Tempel von Angkor Vat, die in den nächsten Jahrhunderten entstanden, waren nicht nur Kulturstätten, sondern auch Herrschaftszentrum.

Der König war der Repräsentant der herrschenden priesterlichen Kaste. Er galt - ähnlich den chinesischen Kaisern der Frühzeit - als Vermittler, zwischen Himmel und Erde, den Göttern und der Welt. Zugleich war er der oberste Richter und Verteidiger des Erdkreises gegen alle Feinde. Er kontrollierte eine weltliche Beamtenhierarchie, die strengen Rangordnungen und Gesetzen unterworfen war, und teilte sich die Macht mit einer sehr kleinen Oligarchie von Priesterfamilien.

Die Bevölkerung bestand in der Mehrheit aus Bauern. Wahrscheinlich waren die Bauern nicht viel bessergestellt als kriegsgefangene Sklaven; über ihr Leben ist aus den Quellen nicht sehr viel zu erfahren. Inschriften bezeichnen sie mit verächtlichen Tiernamen und nennen sie gelegentlich auch "Stinker".

Sklavenarbeit im Dienst der Klöster war der Lebensinhalt dieser Bauern; auf ihrer Sklavenarbeit beruht auch die gesamte Architektur der ersten Jahrhunderte Angkors. Die Könige ließen sich großartige Bauten aufrichten, die ihren Ruhm der Nachwelt künden sollten, doch diese Bauten hatten neben religiöser und monumentaler Bedeutung auch praktische Zwecke. Der Ring künstlicher Seen um die Haupttempel von Angkor ist zum Beispiel nicht nur zum höheren Ruhm der Herrscher angelegt worden. Er diente auch der Bewässerung.

Angkor blieb freilich nicht immer Hauptstadt. Häufig legten neue Könige in der Nähe neue Zentren an. Vor nun eintausend Jahren erreichte das Reich der Khmer jedoch den Höhepunkt seiner Macht. Die größten Teile von Laos, Vietnam, Thailand und der Süden Birmas wurden von Angkor aus regiert. Das Land reichte vom Südchinesischen Meer bis zum Golf von Bengalen, vom Mekong-Delta bis zu den Ausläufern der Berge von Yünnan.

Die Bauten von Angkor entstanden als Ausdruck dieser Machtfülle. Angkor Vat, wahrscheinlich der größte Tempel, der je errichtet wurde, entstand in nur 28 Jahren von 1122 bis 1150. Der Name bedeutet "Tempel der Hauptstadt". Alles deutet darauf hin, daß Angkor Vat geographischer Mittelpunkt der Stadt war, die Suryavarman II. errichten ließ. Mauer und Stadtgraben umgeben den gewaltigen quadratischen Tempelbau, und Inschriften lassen darauf schließen, daß Suryavarman II. dort auch beigesetzt wurde.

Über den Bau schreibt einer der besten Kenner der Geschichte Kambodschas, der britische Historiker John Villiers: "Architektonisch verkörpert Angkor Vat mit seinen konzentrischen Anlagen und gedeckten Galerien, den dazwischenliegenden Höfen, die untereinander durch Kreuzgänge verbunden sind, seiner ungeheuren Zentralpyramide und den fünf Türmen ... den Höhepunkt in der Entwicklung des Tempelberges der Khmer. Er ist wahrscheinlich der am prächtigsten ausgestattete aller Khmer-Tempel. Seine Basreliefs sind nicht nur künstlerisch von sehr hohem Range, sondern sie bilden auch die längste ununterbrochene Bildhauerarbeit irgendeines Bauwerks..."

Angkor war in dieser Zeit eine Weltstadt. Noch als Marco Polo Angkor Thom besuchte (eine spätere Entwicklung auf demselben Gebiet, das von den Historikern insgesamt als Stadt Yaschodarapura bezeichnet wird), fand er eine Stadt von den Ausmaßen der größten chinesischen Siedlungen seiner Zeit. Yaschodarapura (Angkor) hatte damals - 1291 - mehr als eine Million Einwohner.

Über die Ausmaße berichtet laut Villiers auch eine Säule aus dieser Zeit. Der Tempel Ta Prohm besaß danach 3140 Dörfer. 79 365 Personen waren nötig, um den kultischen Betrieb aufrechtzuerhalten, darunter 18 Hohepriester, 2740 amtierende Priester, 2202 assistierende Priester und 615 Tänzerinnen. Die königlichen Lagerhäuser lieferten jährlich 2387 Garnituren Bekleidung für die Statuen; der Tempel selbst besaß goldene und silberne Opferschalen, Diamanten und andere Edelsteine, chinesische Gewänder, Seidenstoffe und brauchte für ein gewöhnliches Fest nicht weniger als 165 744 Wachskerzen.

Die Bautätigkeit beschränkte sich nicht auf diese gewaltigen sakralen Bauten. König Jayavarman VII. (1165 auf den Thron gekommen) ließ beispielsweise zahlreiche Reichsstraßen anlegen, denen die Nationalstraßen der Gegenwart zum Teil noch folgen. 121 Rasthäuser wurden an diesen Straßen im ganzen Land angelegt, 1297 lobte der Chinese Dschou Ta-kuan sie in den höchsten Tönen. Noch heute sind mitten im Dschungel gelegentlich Dämme, Uferbefestigungen, Brückengeländer, ganze Brücken jener vor 800 Jahren angelegten Straßen zu finden, deren längste über 750 Kilometer nach Nordosten geführt hat.

Nicht weniger als 102 Krankenhäuser schreibt man ferner der Bautätigkeit während Jayavarmans VII. Regierung zu, vier davon in Angkor, die übrigen zwischen Vientiane (Laos) und dem Golf von Siam übers Land verteilt; jedes Krankenhaus war ausgestattet mit zwei Ärzten, zwei Assistenzärztinnen, einem Assistenzarzt, vierzehn Krankenschwestern, zwei Männern, die die Heilmittel zu verteilen hatten, zwei Köchen, weiteren Dienstboten, zwei Opferpriestern, einem Astronomen (dessen Aufgaben wohl meist astrologischer Natur waren), sechs Frauen, die Medikamente vorbereiteten, zwei Frauen, die in der Küche den Reis mahlten. Und das vor 800 Jahren, zu einer Zeit, als im christlichen Abendland höchstens in Pilgerheimen (Xenodochien) einzelne Zimmer als Krankenstationen eingerichtet wurden!

Am höchsten ,entwickelt waren Ackerbau und Handel, Wirtschaft und Kultur überhaupt in Angkor, der Metropole des Reiches. Doch nicht nur dort entstanden Tempel. Berühmt ist die Katzen-Zitadelle aus dem thailändischen Grenzgebiet, 190 Kilometer westlich von Angkor. Bekannt ist der Tempel von Preah Vinear im Dangrek-Gebirge, 889 bis 910 erbaut, eine kühne architektonische Anlage auf einer Felsspitze. Um diesen Tempel haben sich Thailand und Kambodscha seit 1945 jahrelang erbittert gestritten, bis er Kambodscha zugesprochen wurde.

Streitpunkt ist freilich auch die Gegend von Angkor geworden. Der Glanz dieser Metropole erlosch kurz nach 1327. Das Bewässerungssystem wurde weniger sorgsam gepflegt, schließlich ganz vernachlässigt, das Land dörrte aus; Historiker meinen, daß sich auch die Malaria aus den entstehenden Sümpfen in die Zentren der Zivilisation verbreitete und die Hauptstadt Angkor selbst lähmte; die Landwirtschaft reichte bei ständigem Verfall der Kanäle und künstlichen Seen bald nicht mehr aus, um die Bevölkerung zu ernähren und den Luxus der absolutistischen Könige zu dulden.

Gleichzeitig begannen vom Westen her die Thais vorzudringen, seither die ständigen Gegner der Khmer. Um 1220 wurden die ersten Provinzen am Golf von Bengalen unter eigenen Königen selbständig. Die im Land der Khmer selbst lebenden nationalen Minderheiten, den Khmer nicht gleichgestellt, sondern zu Sklaven gemacht (wie die Mon und die Schan), nahmen den Kampf auf. Das 13. Jahrhundert sieht den Niedergang der Khmer Kultur, und nach dem Ansturm der Thai folgte der Vorstoß der Mongolen, die gerade China erobert hatten. 1285 stimmte das Königtum der Khmer zu, Kublai-Khans mongolischer Yüan-Dynastie in Peking jährlichen Tribut zu zahlen.

Noch galt indes das Reich der Khmer viel in Asien. Als der Chinese Dschou Ta-kuan es besuchte, war in China schon Mongolenzeit, und Angkor zahlte bereits Tribute; dem Stand der Wissenschaften zollte er Anerkennung, doch die Verfallserscheinungen der Khmer, wie er sie sah, geißelte er scharf: Homosexualität im Priestertum, aber auch Defloration der jungen Mädchen durch amtliche Vertreter des Gottkönigs und durchaus im Sinne der Religion des Khmer-Staats, Korruption und Luxus sah er als schlimme Zeichen der Sittenverderbnis an. Vielleicht zeigten sie wirklich den Verfall an.

Mag das Khmer-Reich auch schwach und korrupt geworden sein, es erlag dem Ansturm der Thais vor allem, weil der wirtschaftliche Unterbau verfiel, die übersteigerte Bautätigkeit aller Könige seit Jayavarman VII. die Produktionskraft des Landes erschöpfte, vier Ernten jährlich nicht ausreichten, die fälligen Steuern zu entrichten, der Handel mit China, Indonesien und Indien immer kostspieliger (weil im Interesse der Herrschenden mehr und mehr auf Luxusgüter gerichtet) wurde und die Produktivität der Wirtschaft den ,Forderungen der Herrscher und ihrer Oligarchie nicht mehr nachkam.

Ruinen im Dschungel

Als Angkor 1352 erstmals belagert wurde, war das ein ernstes Zeichen. Doch änderte sich an der Herrschaftsführung der Khmer-Gottkönige nichts zum Guten, und wenn noch Mitte des 14. Jahrhunderts ein chinesischer Reisender vom "Chen-la dem Reichen" spricht (Chen-la blieb der chinesische Name für Kambodscha), so meinte er damit durchaus nur den Luxus der Herrschenden, nicht den Wohlstand eines ganzen Volkes.

Die Thais setzten ihre Angriffe unablässig an den Westgrenzen fort. Wo sie siegten, schleppten sie die männliche Bevölkerung als Sklaven fort. Die Khmer selbst wandten sich den entsagenden Lehren des Hinayana-Buddhismus zu, weg von den Lehren, die den Prunk früherer Jahrhunderte für gut befunden hatten. Angegriffen von Nachbarvölkern, versäumten es die Regierenden, sich wenigstens diplomatischen Schutz durch andere Nachbarreiche zu beschaffen. 1431 wurde Angkor erstmals erobert, 1434 gab Khmer-König Phonhea Yat die glänzende, sechshundert Jahre bestehende Hauptstadt des Reiches auf.

Später kehrten die Khmer-Könige gelegentlich in die verwildernde Gegend am Nordende des Binnensees Tonlé Sap zurück. Doch die Erinnerung verblaßte; ein kambodschanischer König des 16. Jahrhunderts entdeckte auf der Jagd einmal eine verlassene Stadt, von der er nichts wußte: das war Angkor Thom, die letzte glänzende Stadt der Khmer-Blütezeit.