Überleben auf sibirisch

Wo 20 Grad unter null keine Kälte sind und zehn Gläser Wodka keine Menge, ist Nowosibirsk. Die Preise steigen, die Löhne bleiben niedrig. Die Menschen kämpfen, manche mit Erfolg. Impressionen aus dem tiefen Osten Russlands.

Frankfurter Rundschau, 3. November 2001
Aus solchen Abenden kann allerhand entstehen: eine Anekdote, eine Revolution oder ein heftiger Katzenjammer. Für das Erste ist Michail Wladimirowitsch Titow, Schuhfabrikant in Nowosibirsk, immer gut. Das Zweite hat er an diesem Tage nicht geschafft. Für das Dritte mag es durchaus gereicht haben. Titow ist zum festlichen Auftaktabend einer Journalistenrunde ins Hotel Sibirien gekommen, es ist die größte deutsche Delegation der schreibenden und sendenden Zunft, welche die sibirische Metropole jemals aufgesucht hat.

Zum Diner gibt es Kultur. Neben der Tanzfläche, zu der hin sich der Saal öffnet, spielt ein Ensemble zunächst ein bisschen Mozart (Eine kleine Nachtmusik), dann weitere klassische Melodien. Zwischendurch zeigen junge Frauen türkischen Bauchtanz, einen Apachentanz aus dem Paris der 20er und führen schließlich hübsch einstudierte Schritte zur Stimme Adriano Celentanos vor: "Lasciate mi cantare..." Es geht recht international zu; vor einem Dutzend Jahren war wohl eher die Internationale hier zu hören.

Nun also: Auftritt des Michail Wladimirowitsch. Die Produktionsanlagen zeigte er nachmittags schon vor. Das liegt rund achtzig Gramm Wodka zurück. Titow ist nach einem gesitteten Trinkspruch und der Darstellung geschäftlicher Import-Export-Gespräche (betreffend: Schuh-Einkauf in Sizilien) nicht mehr aufzuhalten, wechselt vom Geschäftlichen ins Allgemeine und artikuliert mit der kraftvollen Stimme eines gelernten Offiziers der einstigen Sowjetarmee den Ruhm und die Bedeutung der aufstrebenden, von ungerechten Finanzbehörden und staatlicher Willkür leider aber sehr geplagten Mittelschicht im neuen Russland - und meldet Protest an. Viel Protest. Mit geballter Faust. Bis zu der politischen Voraussage: "Im nächsten Jahr wird die Macht vor uns zittern!" Nach diesem Satz geleitet Gastgeber Anatoli, ein Offizieller Nowosibirsks, den Fabrikanten in fester Umarmung aus dem Saal. Der Gastgeber ist um einiges größer, infolgedessen kräftiger, ist zudem sehr viel nüchterner und wirkt daher insgesamt außerordentlich überzeugend. Abgang des Rebellen.

Dabei will der doch nur protestieren gegen Stillstand, Bürokratie und Inkompetenz. Er ist Unternehmer, einer, der gegen den Strom schwimmt - sofern es Strömung überhaupt gibt und nicht bloß lähmende Ruhe. Nein, die Politik reizt ihn nicht. Der örtlichen Abendzeitung hat er unlängst erzählt, dass er nicht Gouverneur werden will, so etwas wie ein Ministerpräsident in Deutschland. Ihn interessiert sein Betrieb, sein zweites Leben.

Titow war Berufssoldat, unter anderem in der DDR stationiert, zuletzt im Rang eines Obersten. "Dann aber", klagt er verbittert, "haben die mich weggeschmissen wie ein gebrauchtes Kondom. Ich habe militärische Einheiten geführt, Verantwortung gehabt, und da stand ich nach 38 Jahren plötzlich am Punkt null." Mit ihm war seine Familie, wie er sagt, "erledigt, aussichtslos". Die Geschichte eines unverschuldeten Scheiterns, nichts Ungewöhnliches damals in Russland, es gibt Hunderttausende. Manche "Weggeschmissenen" haben sich bei privaten Sicherheitsdiensten verdingt, gelegentlich als Quereinsteiger auch in kriminellen Organisationen. Andere sind ins Bodenlose gefallen. Viele im Alkoholdunst untergegangen.

Michail Wladimirowitsch aber hat den Kampf ums Überleben aufgenommen. Kein Wunder, dass einem dieser vierschrötige, etwas untersetzte Mittfünfziger mit der Bass-Stimme und der stets militärisch-aufrechten Körperhaltung wie ein Symbol vorkommt: für die einen neuen Mittelstand tragende Hoffnung, die in der persönlichen Initiative liegt. Da ist anscheinend einer, der einfach nicht scheitern will und weite Wege geht, um nicht unterzugehen.

Einst fuhr er Lastwagen quer durch Asien und Europa und transportierte Schuhe in die Stadt, in der er jetzt wohnt; von den Herstellern bis Nowosibirsk sind es 6000 Kilometer. Nitschewo (macht nix), in Sibirien sind 20 Grad unter Null keine Kälte, 200 Gramm kein Wodka und 2000 Kilometer keine Entfernung. Nur kann sich die Lkw-Ladung bei solchen Fernfahrten quer durch Asien und Europa schon mal selbstständig machen. Folglich produzierte Titow Verschlüsse für Lastwagen. So verdiente er sich ein Startkapital, und es fügte sich auch sonst ausnahmsweise einiges glücklich zusammen.

Nowosibirsk war bis in die 90er Jahre Rüstungsschmiede gewesen. Nun standen Werkhallen zur Auktion. Im belgischen Mechelen bereitete unterdessen eine Schuhfabrik die Stilllegung vor. Das passte. Titow erstand ein Fabrikgebäude, ließ es sanieren, er kaufte die belgischen Anlagen samt Knowhow und heuerte - damit es kunst- und fabrikgerecht zugeht - den sachkundigen Luc aus Mechelen gleich mit an, importierte spezielles Gerät aus Kaiserslautern - "so viele Nähmaschinen von Pfaff wie bei mir gibt es in der ganzen GUS zusammen nicht" - und eroberte generalstabsmäßig den Markt der Fußbekleidung, Motto: Italienisches Design, deutsche Qualität, sibirischer Charakter. Mehr als 2000 Beschäftigte erhalten regelmäßig Lohn, und die Firma Westfalika expandiert weiter. Ein Musterbetrieb, fand dieser Tage der Fraktionsführer der KP-nahen Agrarpartei in der russischen Staatsduma. "Zwischen Ural und Kamtschatka kenne ich kein Unternehmen der Leichtindustrie, das so schwungvoll und so einfallsreich ist." Das, fasste Nikolaj Charitonow zusammen, "hat eine große Zukunft".

Ein dickes Lob, und es erfreut den Schuhfabrikanten, der Oberst war. Wieso hält er es da mit den Kommunisten? "Ist doch klar. Die so genannten Demokraten sind korrupt, die vertreten die Oligarchen und sonst nichts. Die so genannte Einheit, die Putin-Partei, besteht aus Opportunisten. Von denen kann man nur Ärger erwarten." Militärisches Denken heißt, Bedrohungen rechtzeitig zu erkennen, zum Beispiel jene durch solche Herrschaften fern in Moskau, die dem neuen Mittelstand das einfallsreich verdiente Geld wieder wegsteuern wollen. Die Kommunisten hingegen, "die sind seriös. Die sind ehrlich. Die verstehen uns, den Mittelstand".

Ob Jelena Dugelnaja Fußbekleidung der Marke Westfalika favorisiert, ist nicht bekannt. An diesem Nachmittag trägt die 23-Jährige modische Sandaletten, sorgfältig abgestimmt auf den goldschimmernden Bolero und den braunen Rock. Sie weiß, dass sie außerordentlich gut aussieht, ist erfolgreich und selbstbewusst. Beruflich ist sie eine Frühstarterin: Vor sieben Jahren ist sie ins Geschäftsleben eingestiegen. Sonnenbrillen hat sie zuerst verkauft in der sibirischen Metropole, die mehr Stunden Sonnenschein aufs Jahr gerechnet aufweist als das große Moskau.

Es handelte sich nicht einfach um dunkle Gläser in irgendwelchen Gestellen; es waren die Produkte, welche die internationale Markenartikel-Industrie in bunten Magazinen und mittels endloser Seifenopern aus Brasilien und den USA auch in dieser Weltgegend propagiert. Aus dem Verkauf der Sonnenbrillen ist ein florierender Optik-Betrieb geworden. Was die Mitarbeiterinnen Irina und Swetlana, zuständig für den kaufmännischen Durchblick, mit einem heftigen Nicken bekräftigen: Man weiß, was die hierarchisch abgestufte Höflichkeit gebietet. Es gibt jetzt hier im Laden: Erstens einen Augenarzt. Der stellt die Diagnosen und schreibt Rezepte aus. Aber nur dann, wenn der Patient hinterher auch in Jelena Dugelnajas Laden kauft. Zweitens Fachkräfte der optischen Industrie. Die schneiden aus dem ausreichend vorhandenen Material die Brillengläser zu. Drittens mehrere, auf Höflichkeit geschulte Verkäuferinnen - was im russischen Einzelhandel nach wie vor unüblich ist. "Das Geschäft", erläutert Jelena Dugelnaja, "können Frauen besser. Sie können die Kundinnen und Kunden besser beruhigen."

Das Unternehmen mit seinen 40 Beschäftigten gehört in die Kategorie, die in Zeiten der Globalisierung upmarket genannt wird. Auf Russisch übrigens auch. Was Irina Alexandrowa, die Vizedirektorin, denn auch betont: "Wir haben modernste Technik. Was für eine Brille wollen Sie - bifokal, astigmatisch, progressiv? Wir machen das, und zwar aus hochwertigem Kunststoff. Der ist leicht und gerade dann angenehmer zu tragen, wenn der Kunde eine starke Brille braucht." Die Gestelle tragen die Markenzeichen aller Welt-Hersteller, ein Grossist in Moskau liefert sie. "Wir", sagt Jelena Dugelnaja mit einem entschuldigenden Lächeln, "wir haben hier in Nowosibirsk nur einen Laden, darum lohnt sich der Direkteinkauf nicht." Sie sagt nicht: Mit dem Zoll soll sich bitte der Grossist im fernen Moskau herumschlagen und notwendige Bakschisch-Zahlungen aus der eigenen Tasche berappen.

Das ist manchmal bitter nötig, wie Doktor Ortwin Iwanowitsch Bergen bestätigen kann, der Chefarzt für einen der Nowosibirsker Stadtbezirke, Chef über 62 Behandlungsstationen für 160000 Einwohner und Leiter eines Krebskrankenhauses für Kinder. Denen wollten mitfühlende Menschen in Deutschland zu Weihnachten eine Freude machen und schickten 150 Pakete mit Weihnachtsgeschenken. Die lagen dann im Zollgelände des internationalen Flughafens Tolmaschowo, und Doktor Bergen wusste das, aber er sollte eine unmäßige Summe an den Zoll entrichten und wollte dies nicht, schon um keinen weiteren Präzedenzfall zu schaffen.

Er besorgte sich die notwendigen Papiere von sehr hoher Stelle; nichts nützte es. Nun denn, man konnte notfalls warten bis Neujahr. Nichts geschah. Dann bis zum russisch-orthodoxen Weihnachtsfest, Bergen ist da kein Dogmatiker. Wieder geschah nichts. Bis wunderbarerweise doch wer anrief: Tamoshnja, gar der Herr Zollamt persönlich. Der Herr Doktor möge bitte die 150 Pakete abholen, es koste auch nichts. Es war die Zeit vor Ostern. Von den 150 Paketen, Doktor Bergen erzählt es resigniert, waren 149 leergeklaut.

Der Unternehmerin Jelena Dugelnaja also wird dies nicht passieren; folglich kann sie weiter expandieren. Zunächst ins Möbelgeschäft: In einem anderen Ladenlokal der 1,5-Millionen-Stadt lässt sie italienische Importmöbel feilbieten. "Das Angebot", sagt sie, "ist Elite-orientiert. Das ist teuer. Anders ist es mit der Optik: Da reicht das Angebot von fünf bis 500 Dollar." Die fällige Renovierung ihrer Firma - Kosten: zwei Millionen Rubel - kann aus dem Barbestand bezahlt werden. Fragt sich aber noch, woher das Anfangskapital stammte. Nun, äh, "oft kommen kleinere Firmen unter dem Patronat größerer Firmen zustande, hier: aus dem Zinnkombinat". Das Kombinat hat Geld gegeben - "es bestehen verwandtschaftliche Beziehungen" -, und im Prinzip ist der nicht ganz unbedeutende Trust aus dem Buntmetallischen auch heute noch Aktionär, dies allerdings mit neunzig Prozent der Anteile. Das Zinnkombinat seinerseits ist privatisiert. Damit, bedeutet sie, sei der Erfolg wohl ausreichend erklärt.

Doktor Bergen hat Geldsorgen. Die Stadt zahlt ihm für jeden seiner kleinen Krebspatienten - untergebracht in Einzelzimmern, gemeinsam mit der Mutter, wenn die Zeit hat - für jeden Tag in der Klinik 46 Rubel, umgerechnet zwölf Mark. Die täglichen Kosten pro Kind betragen alles in allem 870 Rubel. Wenn da nicht zwei Fonds die Klinik förderten, ginge das gar nicht. Es sind der Gorbatschow-Fonds (zur Erinnerung: Michail Gorbatschow war der letzte Präsident der Sowjetunion) und der Rostropowitsch-Fonds (zur Erinnerung: Mstislaw Rostropowitsch, Dirigent, Cellist und Pianist aus Baku, war vor seiner Rückkehr nach Russland Dirigent des National Symphony Orchestra Washington).

Ortwin Bergen ist in der Ukraine geboren, in einer deutschen Gemeinde. Sein Großvater und sein Vater waren mennonitische Geistliche, und das hätte er auch werden sollen; nur ist die Familie auf Stalins Befehl nach Asien verbannt worden, wegen der Repression war eine theologische Ausbildung nicht möglich. Doch auch ein Arzt hilft Menschen; er, der Doktor Bergen, ist so dem Credo seiner Vorfahren treu geblieben und hat einen zeitgemäßen Weg gefunden. "Wir sind jetzt moderner geworden in Russland", meint er, "früher wurden nur Frauen Ärzte, jetzt auch Männer." Sein Deutsch rostet etwas; dabei hat er sein erstes russisches Wort erst gehört, als er in die Schule kam.

Die Klinik muss sich selber finanzieren. Selbst wenn das Gesundheitswesen Not leidet: Sie kann es. "Als wir anfingen", sagt Doktor Bergen, "war die Todesrate 95 Prozent. Dann bekamen wir durch Spenden deutsche Geräte und Medikamente." Mögen die Zöllner Geschenke klauen, weil man die verscherbeln kann; Röntgengeräte klauen sie nicht. Die sind auf dem Schwarzen Markt nicht loszuschlagen, für Medikamente gilt das zum Teil auch. "Die Spenden", fährt Bergen fort, "haben uns sehr geholfen und den Patienten noch mehr. Jetzt überleben 87 Prozent."

Die Krebserkrankungen aber nehmen zu. Wegen Tschernobyl oder wegen der Havarie in Tomsk? Nein, da kann man keinen Zusammenhang herstellen, sagt Bergen. Vielleicht wegen der früheren Atombombenversuche im Oktogon bei Semipalatinsk, zwischen 1949 und 1989 sind dort mindestens 467 Atombomben gezündet worden, 400 Kilometer von Nowosibirsk entfernt, doch auch da lasse sich nichts beweisen. Und die Strahlengefahr aus dem Boden? Nahe Nowosibirsk entweicht Radon aus einer Bruchzone zwischen zwei geologischen Platten. Der Doktor winkt ab. Nein, das erklärt die Zunahme der Erkrankungen nicht, aber es erklärt - sozusagen - den Sockel. Und auch dies müsse man sagen: Die Lebenserwartung ist in den vergangenen paar Jahren auf 59 Jahre bei Männern, 63 Jahre bei Frauen zurückgegangen. Sie lag mal über 70.

Tuberkulose ist ein schlimmeres Problem. 139 Fälle auf 10000 Einwohner. Das, diagnostiziert Ortwin Bergen, liegt am Eiweißmangel und der schlechten Ernährung, "die Kinder gehen schon hungrig zur Schule, hier ist der Lebensstandard gesunken, seit die Rüstungsindustrie zusammengebrochen ist und die Leute keine Arbeit finden, hier sind die Wissenschaftler unterbezahlt - sinkt der Lebensstandard, dann steigt der Krankenstand". Nur freilich, die alten Zeiten mit der boomenden Industrie, die Waffen herstellte, mit der Menschen umgebracht werden sollen - "die wünscht sich hier keiner. Das frühere System - nie wieder". Das frühere System ist noch da. In der Nachbarstadt Kemerowo - keine 500 Kilometer südöstlich gelegen - hat die Firmenleitung der Kokerei "Offene Aktiengesellschaft (OAO) Koks" am Werkseingang die Fotos der Arbeiter des Monats überlebensgroß auf eine Wand appliziert, als wenn es noch immer darum ginge, jedes Vierteljahr einmal einen Produktions-Weltrekord zu brechen. Wie damals, als Alexej Stachanow im September 1935 in einer einzigen Nachtschicht 102 Tonnen Steinkohle eigenhändig aus einem Schacht im ukrainischen Donezgebiet holte; das wurde vor 66 Jahren offiziell so dargestellt, aber es war nicht wahr. Die Zahl stimmte nicht, und die Bedingungen waren nicht real. Für den Rekord-Hauer war alles präpariert worden, auf dass er unter keinen Umständen versagen konnte. Stachanow schuf dennoch das Maß für alle Kumpel; norma budit, die Norm musste erfüllt werden - wenn nicht, bestand der Verdacht auf Sabotage.

Damals schon bemächtigte sich der sowjetische Witz der Heldentat: Beim zweiten Rekordversuch sei besagter Alexej Stachanow wiederum im Donezgebiet eingefahren, habe eine Nachtschicht lang wie ein Berserker Kohle losgeschlagen und sei am Morgen in der Gegend von Kemerowo wieder ans Tageslicht geklettert; 6000 Kilometer liegen zwischen dem Fluss Don und dem Fluss Tom, doch das ist ja keine Entfernung. Die Straße, die zur Kokerei "Offene Aktiengesellschaft Koks" in Kemerowo führt, heißt noch heute Stachanow-Straße; das geht auf einen Beschluss der Ortsleitung zurück. Aber das, heißt es, hat nichts zu bedeuten. Wirklich nichts.

Die Firma ist ein Ausbund sibirischer Industriegeschichte. 1924 wurde sie als Sowjet-Trust gegründet, weil das ferne Moskau erst damals auf die Reichhaltigkeit der Bodenschätze aufmerksam geworden war, obgleich in der Region seit 1721 in Maßen abgebaut worden war. Zuvor war lediglich die Transsibirische Eisenbahn beliefert worden. Das bisschen Kohle warf der Tagebau ab. Die beiden Dörfer Schtscheglowo und Kemerowo, irgendwo am Oberlauf des Tom-Flusses gelegen, waren gerade erst zu einer neuen Stadt zusammengelegt worden. Doch dann begann die Stalinsche Industrialisierung.

Die Kohle aus Kemerowo ist schwefelarm, relativ kostengünstig zu fördern aus Flözen, die zwischen 15 und 40 Meter mächtig sein können. Weit im Westen aber, am Ural, gab es einen Berg aus schierem Eisen. Zweitausend Kilometer entfernt - natürlich keine Entfernung in Sibirien. Da wurde das gewaltige Stahlkombinat Magnitogorsk gebaut, das mit Kohle aus Kemerowo befeuert wurde, und lange danach auch eine Stadt für die Arbeiter. Einige waren aus schierer Begeisterung gekommen, wie der Kommunist Jack Scott aus Wisconsin, ein 20-jähriger Student, der seinen Platz sah "an der Seite der Arbeiter, die im Begriffe stehen, eine neue Welt aufzubauen" und sich deswegen zum sowjetischen Schweißer umschulen ließ. "Ich war einer von vielen, denen es gleichgültig war, ob sie ein zweites Paar Schuhe besaßen, bauten sie doch Hochöfen, die ihnen selbst gehörten", notierte er im September 1932.

Scott wurde bald bitter enttäuscht. Ein Stahlwerk nach den hochmodernen Plänen der US Steel Corporation in Gary (Indiana) ließ sich kaum mit freiwilligen Arbeitern errichten und betreiben, von denen "viele noch nie elektrisches Licht oder eine Maschine gesehen hatten, einige noch nicht einmal eine Treppe. Sie mussten die Wunder der Elektrizität, der Dampfkraft und die moderne Technologie von einer Minute auf die andere bewältigen", kommentiert der Historiker W. Bruce Lincoln. Es gab keine festen Häuser, kaum wetterfeste Unterkünfte.

Von den Millionen, die am Westrand Sibiriens das Stahl-Wunder zu vollbringen und in Sibiriens Mitte die dafür notwendige Kohle aus der Erde zu holen hatten, waren die meisten schon 1932 Zwangsarbeiter: Vorarbeiter, deren Schicht unter den Normen geblieben war; Arbeitervertreter, die Unfallzeugen irgendwo im Sowjetland geworden waren; Leiter von Fabriken, in denen es irgendwie nicht klappte; Arbeiter, denen das Werkzeug in der Hand zerbrochen war; Intellektuelle, denen man durch "Umerziehung mittels Arbeit" das falsche Denken auszutreiben hatte. Sie wurden oft mitten in der Nacht von der Geheimpolizei abgeholt, zusammengeschlagen, zu Geständnissen erpresst - etwa: Sabotage. Nur Saboteure konnte ja ein Interesse an der Nichterfüllung der Pläne haben, wie unrealistisch auch immer die Pläne sein mochten. Das ist unvergessen in Kemerowo.

Die Kokerei, die OAO Koks, die einst in der Planwirtschaft einen sicheren Platz und eisenfeste Normen besaß, kämpft seit zehn Jahren ums Bestehen und war 1995, wie Direktor Sergej Djakow berichtet, praktisch bankrott. Sie hatte erhebliche Schulden beim Staat, "es gab eine hohe Fluktuation der Arbeiter, verbunden mit ungenauer Lohnzahlung". Woher kam die Krise? Schlecht durchdachte Maßnahmen von oben, Druck des Internationalen Währungsfonds, offenbar auch eine schwache Firmenleitung.

Der Kokerei-Direktor ist heute noch empört darüber, dass unter diesem Druck 35 der 70 Zechen im Kusbass geschlossen wurden - Kusbass, Kusnezker Industrierevier, ist derjenige Verwaltungsbezirk, der von Kemerowo aus verwaltet wird und unter alter Führung anscheinend alles treiben ließ, wie Direktor Djakows zornige Elegie andeutet: "Wir hatten manchmal Schwierigkeiten, Kokskohle zu bekommen, obwohl wir hier im Kusbass doch auf Kohle sitzen!" Auch die Grünen wollten den Betrieb dichtmachen lassen. Was für eine Idee, hier "gibt es praktisch doch nur Kohle und Metallurgie". "Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre waren die Grünen die Vormacht", aber ihre Forderungen werden jetzt "in zivilisierten Schranken" durch staatliche Kontrollinstitutionen vertreten. Gerade jetzt hat OAO Koks "Maßnahmen ökologischen Charakters" (Direktor Djakow) eingeführt und wird - so viel sei sicher - im nächsten Jahr nicht mehr Abgase in die Umwelt blasen, als es den europäischen Standards entspricht.

Die Arbeiter, die längst nicht mehr so oft wechseln, hängen zudem am Betrieb. Als 1999 die Koksbatterie Nummer sechs - über zwanzig Jahre alt, längst über das normale Betriebsalter hinaus - abgerissen wurde, haben viele Arbeiter geweint, man hätte ja noch reparieren können. Seit ein paar Monaten arbeitet die Batterie Nummer sechs auf dem neuesten Stand der Technik, und auf einen bestimmten Ziegel an der Außenwand weist der Direktor geradezu mit Andacht hin: Diesen Stein hat Gouverneur Amangeldi Tulejew selbst eingesetzt. Was die 2200 Beschäftigten sicher sehr gefreut hat.

Auf einem der großen Märkte in Nowosibirsk bekommt man für 300 Rubel eine gut gemästete Gans, wenn Saison ist, oder ein Kilo der besten Fisch-Sorte, die aus Sibiriens gewaltigen Flüssen geholt werden kann, wenn die nicht zugefroren sind. Oder vier bis fünf Kilo Schweinefleisch. 300 Rubel sind offiziell 23 Mark. Die Arbeiter in der Kokerei verdienen umgerechnet 435 Mark, im Steinkohlen-Tagebau 630 Mark im Monat. Zu wenig für ein sorgenfreies Leben, zu viel für eine Revolution. Wenig genug für den großen Katzenjammer einmal im Monat, wenn das Geld eintrifft. 1000 Rubel bei einem amtlich anerkannten Arbeitslosen oder achthundert bei einer Rentnerin. 80 Mark sind das, oder eben nur 64. Die Marktpreise in Sibirien aber, die haben Weltnivau.