Der Revolutionär, der in der Wüste blieb

Oberst Moammar el-Ghaddafi regiert Libyen seit 25 Jahren mit großen Worten und Petrodollars

Frankfurter Rundschau, Nachrichten, 30. August 1994
Das Ritual ist dasselbe geblieben, seit Moammar el-Ghaddafi seine mittlerweile vier Millionen libyschen Landsleute führt. Zum Revolutionstag erscheinen vor der alten Festung der kleinen Hauptstadt Tripolis Bauarbeiter, stellen dem alten Gemäuer ein paar Stahlrohrtribünen gegenüber, und nach dem Abendgebet am Feiertag füllen diese sich mit auserwählten Vertretern der Volksjugend und der "politischen Strukturen". Verspätet erscheint Ach Moammar (Bruder Moammar) auf der festen Prominententribüne gegenüber, nimmt die Parade der bewaffneten und unbewaffneten Staatsbürger ab und redet. Und redet.

Am Ende, schon gegen Morgen, wenn aber noch immer nur Scheinwerfer es ermöglichen, einen weißen von einem schwarzen Faden zu unterscheiden, bricht sich der spontane Jubel des Volkes Bahn. Die Menge drängt von den Stahltribünen über den Platz, ruft dem Redner und Führer das Wesentliche zu - ath-Thoura (Revolution) und Ach Moammar (Bruder Moammar) - und hascht nach seinen Händen. Manchmal zieht sie ihn schier vom Podest; aber da halten Sicherheitskräfte ihn zurück.

Keine Gefahr für die Sicherheit der engeren und weiteren Führung, die pflichtgemäß hinter Ghaddafi Platz genommen hat. Die spontan Jubelnden haben sich ihren Tribünenplatz redlich verdient durch gute Arbeit in der Volksdschamahirija, der schwer definierbaren Staatsorganisation des Landes. Sie werden Ach Moammar nicht stürzen. Eher geraten sie selbst in missliche Lagen; es soll verspaetete Panzerfahrer gegeben haben, die in die spontanen Massen rollten, und manchmal haben unerfahrene Militaer-Chauffeure ihr teures Geraet auch schon an die Mauern gesetzt. Dem wohlinszenierten Schauspiel, das fröhlich-verspielte Massen in ihrer Freude am Weisen Führer darstellen soll, tut das kaum Abbruch.

Moammar el-Ghaddafi hat am 1. September 1969 die damals 18 Jahre alte Monarchie des Koenigs Mohammed Idris el-Mahdi as-Senussi gestürzt. Nicht er allein; es war eine Junta, die "Freien Unionistischen Offiziere". Die hatten sich seit 1966 in der königlichen Armee ausbilden lassen, um sie zu stürzen. Als ihr Sprecher trat zuerst Oberst Schueirib auf; bald zeigte sich, dass der 27 Jahre alte Moammar el-Ghaddafi die inspirierende Kraft war. Am 7. September offenbarte er sich als Vorsitzender des Revolutionsrates.

Seit jener Zeit ist er den Idealen der Revolution treugeblieben, manchen naiven Vorstellungen freilich auch. Volksverbundenheit hat sich in diesem Vierteljahrhundert zum Ritual des Lebens in der Wüste verändert. Das Zelt, in dem Ghaddafi häufig wohnt und meditiert, ist allerdings klimatisiert und verfügt, wie es heißt, über alle elektronischen Kommunikations- und Unterhaltungsgeräte, die sich an Batterien betreiben lassen. Ghaddhafi blieb in der Wüste.

Von den Verlockungen des städtischen Luxus hielt er sich fern; andere Mitstreiter sind in alkoholischen Fragen beispielsweise wesentlich flexibler geworden und haben sich auch sonst von den rigiden, aus dem Beduinenleben der libyschen Mehrheit erklärbaren Verhaltensvorschriften der Religion weit entfernt.

Ghaddafi versteht sich, seit Gamal Abdel Nasser ihn einmal freundschaftlich als "mein Sohn und Erbe" ansprach, als der arabische Revolutionär. Dem daraus entspringenden Wunsch nach Verschmelzung seines spärlich bevölkerten Landes mit Ägypten, Tunesien, Algerien, Sudan oder Marokko ist aber keiner der Nachbarstaaten gefolgt. Alles ist einmal beschlossen und alsbald vergessen worden.

Mit dem revolutionären Selbstverständnis verhält es sich anders. Es hat Ghaddafi dazu motiviert, Aufrührern und Widerständlern, Volksführern und Scharlatanen, Pazifisten und Terroristen brüderliche Hilfe anzubieten, und manchmal erfüllte er ihnen Wünsche, die sie noch gar nicht hatten. Der Irischen Republikanischen Armee half er wie der baskischen ETA, dem simbabwischen Volksführer Joshua Nkomo wie dem palaestinensischen Sektierer Georges Habbasch. Um vermuteten Volksbewegungen zu helfen, ließ er Anschläge inszenieren von der philippinischen Insel Mindanao bis zur atlantischen Insel Irland. Attentate wie jenes auf die Berliner Diskothek "La Belle" werden ihm ebenso angelastet wie das von Lockerbie.

Ghaddafi sieht in einigen dieser Vorwürfe, und zumal in Vergeltungsfeldzügen wie etwa der USA unter Ronald Reagan im Jahre 1986, imperialistische Verschwörungen. Folglich unterhält sein Land auch keine gewöhnlichen Botschaften in den kapitalistischen Ländern; es sind missionierende Volksausschüsse.

Sie missionieren für die "Dritte Universaltheorie", mit der Ghaddafi seit 20 Jahren "das Demokratieproblem löst", den Kapitalismus widerlegt und auch sonst Antworten für alles findet. Manche sind überraschend naiv; das ist verständlich angesichts seines Bildungsgangs und seiner Biographie, die sein halbes Leben lang mit der Staatsmacht zusammenfällt. Die wiederum beruht nicht auf seinen Überzeugungen, sondern, allen Boykottversuchen zum Trotz, auf Petrodollars. Damit hat das Regime soziale Leistungen finanziert, die in der arabischen Welt ihresgleichen suchen, von Schulen und Hospitälern bis zum Wohnungsbau. Ölgeld ermöglichte es, den "Ozean unter der Wüste" anzuzapfen und den "größten Fluss von Menschenhand" sprudeln zu lassen.

Doch besagter Fluss bringt die Ökologie ganz Nordafrikas ins Ungleichgewicht, und unsachgemäße, überoptimistische Bewässerung ließ Neuland rasch zu versalzendem Ödland werden - Wüste von Menschenhand. Und in den Städten sind die von Sozialleistungen begünstigten Libyer anonymisiert und ihren Traditionen entfremdet worden, ohne den ökonomischen Zwang, neue Gewerbe zu entwickeln und Wirtschaftsformen zu finden, die über die basarökonomische Einheit von Handel, Handwerk und freizügiger Arbeitsdisziplin weit hinauswirken. Die Disziplin kommt von oben, ist auf Ach Moammar bezogen, knüpft an stammesgeschichtliche Traditionen an und ist längst nicht so modern wie ihr Schöpfer glaubt. Die Revolution ist in der Wüste geblieben - in der Sahara, wie sie vor der Osmanenzeit und erst recht vor der italienischen Kolonial-Periode bestanden hat.