Allwissend - selbst als Hühnerzüchter

Kim Il-Sung herrschte fast 50 Jahre über Nordkorea und hinterlässt einen Erben, dessen Absichten keiner kennt

Frankfurter Rundschau, 11. Juli 1994
Der "Große Führer" Kim Il-Sung ist tot, und die Demokratische Volksrepublik Korea müsste ins Nichts versinken, wäre da nicht der "Geliebte Führer" Kim Jong-Il. Der älteste Sohn leitet das Komitee zur Vorbereitung der Beisetzung. Das ist in kommunistischen Ländern ein sicheres Indiz. Wer dafür nominiert wird, der tritt das Erbe an, vorerst wenigstens.

In den nächsten zwei Wochen, bis zur Beisetzung, werden die Führungsgremien die Machtfrage einstweilen lösen; erst einmal ist Staatstrauer verordnet. Dazu hat es keiner besonderen Befehle bedurft. Kein Nordkoreaner hat je einen anderen einheimischen Herrscher kannengelernt als den nun Verstorbenen; bevor der von der Sowjetunion 1945 zum Chef des Nordens ernannt wurde, war ganz Korea von Japan kolonisiert. Das Volk, dem jegliche Information über die Außenwelt nur in minimaler Dosierung verabreicht wird, lebt im Bewusstsein der Einzigartigkeit seines nationalen Befreiers, Staatsgründers, Parteichefs, allmächtigen Führers und Halbgottes. Die Rechtlosigkeit, den systematischen Entzug des eigenen Willens übersieht es, die ständige Knappheit erduldet es mangels besseren Wissens.

Kim Il-Sung hat sich mit einem Personenkult umgeben, der selbst die stalinistischen und maoistischen Exzesse der vergangenen Jahrzehnte verblassen lässt. Kim war der größte Philosoph, der Erfinder der Dschutsche-Theorie, welche "die wesentlichen Eigenschaften des Menschen, seine Stelle und Rolle als Beherrscher und Gestalter der Welt neu durchdacht und der Würde und den Fähigkeiten des Menschen den höchsten Stellenwert zuerkannt" hat, was "von keiner anderen philosophischen Idee vollbracht werden konnte". So hat es der Sohn den Propagandatrupps seiner Partei erklärt.

Ohne Kim Il-Sung wüssten wahrscheinlich nicht einmal die Hühnerzüchter, wie sie ihren Tieren das Eierlegen beibringen. Vor einem Jahr hat Kim eine Hühnerfarm nahe der Hauptstadt besucht und die "Anleitung" ausgegeben: "Um die Überlebensrate der Hühner und die Legequote zu erhöhen, (muss man) alle Arbeiten wie Füttern, Kontrolle von Temperatur und Feuchtigkeit sowie Maßnahmen der Veterinärmedizin und der Seuchenbekämpfung auf eine wirtschaftliche und technologische Grundlage in Übereinstimmung mit den physiologischen Merkmalen der Hühner stellen." Die staatliche Nachrichtenagentur KNCA hat die Banalitäten am 10. Mai vorigen Jahres pflichtschuldigst verbreitet und herausgefunden, dass die Arbeiter der Hühnerfarm die Sentenz gewissenhaft in die Tat umsetzten. Ob nun auch Kims Hühner Bescheid wissen, hat KNCA leider nicht gemeldet.

Der allwissende Hühnerzüchter hat freilich mehr geleistet. Die Staatslegende weiß, dass er im zarten Alter von 13 Jahren schon entschlossen war, die Japaner zu vertreiben, dass er ein von allen Feinden gefürchteter Partisanengeneral war und als Held ins eigenhändig befreite Vaterland heimkehrte. Am Paekdu-Berg gibt es kaum einen Baum, in dessen Rinde nicht jemand angeblich schon 1937 geschrieben hätte, dass im jenem Jahre hier der Große Führer die Schlacht von Pochonbo gewonnen hat. Jeder Baum ist gezeichnet, unter dem er ruhte oder in dessen Schatten jemand während der Entscheidungsschlacht an ihn dachte. Schönheitsfehler der Legende: Dies war keine entscheidende Partisanenschlacht; der Überfall auf die Polizeistation Pochonbo setzte nicht mehr als 30 japanische Feldgendarmen außer Gefecht. Kommandiert wurde er von dem Twen Kim Song-Chun.

Den Partisanengeneral Kim Il-Sung hat es damals allerdings auch gegeben: in zahllosen Legenden, die seit den dreißiger Jahren dort umgingen, wo im chinesischen Nordosten Koreaner leben - in dem damals von Japans Gnaden geschaffenen Marionettenstaat Mandschukuo. In diesem Namen fließen die echten und erdachten Taten von zwei Dutzend Widerstandskämpfern zusammen, die schon berühmt waren, als der am 15. April 1912 in Pjöngjang geborene spätere Große Führer noch kaum laufen konnte.

Der 33jaehrige, den die Sowjetmacht am 14. Oktober 1945 den Einwohnern Pjöngjangs als ihren Vertrauensmann präsentierte, war in Wirklichkeit jener Twen Kim Song-chun vom Paekdu-Berg. Er baute auf der zusammengeliehenen Identität seinen Kult auf; eine der Machterhaltung dienende Fälschung.

Die zweite betrifft den Krieg zwischen beiden koreanischen Staaten. In Pjöngjang war immer diese Version zu hören: Kim hätte, um den gerade erst entstehenden Sozialismus im Norden zu retten, einen Abwehrkrieg gegen Südkorea und die USA geführt, der als "Nationaler Befreiungskrieg" beinahe zur Befreiung des Südens vom Imperialismus geführt hätte. Inzwischen ist wohl nachgewiesen, dass Kim Il-Sung auf eigene Faust angegriffen hat. Es ist nicht einmal sicher, dass er sich bei Stalin und Mao vor dem Krieg rückversichert hat; und nicht die Kämpfer Kims haben US-Armee und Südkorea vom Grenzfluss Yalu wieder bis zum 38. Breitengrad zurückgedrängt - das tat eine chinesische Streitmacht von fast vier Millionen "Freiwilligen".

Das rohstoffreichere Nordkorea hatte nach den Verwüstungen des Korea-Kriegs die besseren Ausgangsbedingungen. Unter der Herrschaft Kim Il-Sungs hat es den Vorsprung verloren. Es hat dennoch Erhebliches geleistet. Zu einigen technischen Spitzenleistungen ist Nordkorea in der Lage, bis hin zur Atom(bomben)-technik. Aber seit den siebziger Jahren, seit Südkorea sich aus den Fesseln der Militärdiktatur befreite und den Manchester-Kapitalismus als Entwicklungsmodell entdeckte, kann der Norden mit dem Nachbarn nicht mehr mithalten. Der Ausfall der bisherigen sozialistischen Handelspartner hat die Krise vertieft. Kim hinterlässt ein Land jenseits der Grenze des Staatsbankrotts.

Ein Halbgott wie der Große Führer konnte zwar keinen Fehler machen, er konnte aber die ideologische Begründung unangefochten liefern. Die lautet: Aggression des Südens. Der militärischen Bereitschaft wurde alles andere untergeordnet; ein Viertel des Sozialprodukts steckt die Demokratische Volksrepublik jährlich in die Rüstung. Die Armee aber dient der inneren Disziplinierung.

Angesichts dieser Selbstdarstellung war der Schrecken weltweit beträchtlich ob des Austritts Nordkoreas aus dem Atomsperrvertrag. Zwar hat Jimmy Carter, Expräsident der USA, als letzter ausländischer Pjoengjang-Besucher zu Kim Il-Sungs Lebzeiten ein nicht ganz so schreckliches Bild des Diktators gezeichnet. Aber das beruhigt nicht sehr. Für das Atomprogramm soll nämlich Kim Jong-Il zuständig sein, sein wahrscheinlicher dynastischer Erbe.

Über ihn ist allzuwenig bekannt, um ihn ausrechnen zu können. Sicher scheint, dass er 1942 (oder schon 1941?) im ostsibirischen Chabarowsk geboren ist, bis zu seinem zehnten Lebensjahr in chinesischer Obhut aufwuchs, in Pjöngjang Politik und Wirtschaft studiert hat und seit etwa 1975 die Propagandamaschinerie des Systems kontrolliert. Die schildert ihn als bescheiden und zurückhaltend; die Gegenpropaganda nennt ihn verhaltensgestört und desinteressiert - außer an sehr junger weiblicher Gesellschaft -, sprachgehemmt und linkisch. Falls er als Nachfolger des Übervaters bestätigt wird, dürfte die Welt ihn beim bevorstehenden Gipfel mit Südkoreas Staatsführung erstmals beobachten können.