Mann des Apparats, der den Staat mit sich riss

Erich Honecker, der letzte Staats- und Parteichef der alten DDR, musste den Untergang seiner Ideale mit ansehen

Frankfurter Rundschau, 30. Mai 1994
Im Haus seiner Tochter in Santiago ist Erich Honecker gestorben; einen halben Erdumfang weit entfernt von der Weltgegend, die zu verändern sein Lebensinhalt war. Gescheitert ist er mitsamt jenem real existierenden politischen System, das sich fälschlich als sozialistisch und überlegen ausgegeben hatte; die Inhalte der politischen Lehre, die er vertreten hat, sind, identifiziert mit dem Sowjetsystem, untergegangen. Aufgearbeitet werden die kriminellen Mittel, deren es sich bedient hat. Das kann den historischen Blick auf den Kommunisten, der einmal einen Staat in Deutschland beherrscht hat, erheblich verstellen.

Erich Honecker hat sich zweifellos bis zu seinem jähen Sturz eins gewusst mit der ehernen Zwangsläufigkeit der Geschichte. Sozialismus gleich Zukunft, und, wie die Dinge so liegen, Sozialismus zuletzt in den Farben der DDR daran hat er geglaubt. Die "größte DDR der Welt" stand unter den "Baracken im sozialistischen Lager" zwar nicht eben als die fröhlichste da (das war für Ungarn reserviert), aber doch als die stabilste. Die Statistik zeigte es. Wie weit sie der Realität entsprach, war eine andere Sache. Für Honecker galt 1986 noch: "Die SED ist die erfolgreichste Partei auf deutschem Boden."

Noch im Herbst 1989 (er brachte der DDR die Revolution) war der Glaube unerschüttert: Honecker lud, um seine Volksverbundenheit zu beweisen, einen westlichen Journalisten ein, die nächste Maiparade an seiner Seite auf der Ehrentribüne zu verbringen; da werde der Journalist schon erkennen, wie sehr das Volk den Staats- und Parteichef der DDR verehre. Andererseits, dass eben dieses Volk eben diesem Staats- und Parteichef nicht zu nahe kommen durfte, wenn er auswärtigen Besuch hatte, konnte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt im Dezember 1981 in Güstrow beobachten. Die Stadt war leergeräumt. Tags vorher, zum Treffen beider am Werbellinsee, war weder die abstrakte Öffentlichkeit noch das konkrete Volk zugelassen. Wusste Honecker, was die Leute auf der Strasse von ihm hielten besonders dann, wenn sie nicht "auf der Straße" waren, wohin sie nur zu amtlichem Jubel strömen durften?

Späterhin haben Menschen aus seiner Umgebung den Realitätsverlust Honeckers erläutert, darunter in Buch und Vortragsreise sein mittlerweile mit Recht vergessener Wegwerf-Nachfolger Egon Krenz. Vorher, bis zum Oktober 1989 noch, hat anderes gegolten. Da lobte Volkskammerpräsident Horst Sindermann im März 1986, dass Honecker sich bei Ausflügen in die Landwirtschaft sogar "auf die Jauchegrube im Dorf" eingelassen habe, als ob die für die Realität der Riesen-Agrarkombinate irgendwie repräsentativ wäre. Und der alte Ökonom Jürgen Kuczynski, später Mahner und Reform- Denker, bescheinigte: "Wie viele treffende Ausdrücke hat der Genosse Honecker für neue Prozesse und Erscheinungen, die er analysiert, gefunden!" Brecht-Schauspielerin Gisela May lobte zu seinem 70. Geburtstag Honeckers "gesunden, kräftigen Tenor", und "wer die Lieder von damals noch heute so singen kann wie er, der ist im Herzen jung geblieben, ein Freund der Jugend, ein Freund der Menschen überhaupt".

Das Archiv der (damals) staatlichen DDR-Nachrichtenagentur ADN verzeichnete ihn am letzten Tag der DDR noch immer 1948mal. Honecker, der einsame Spitzenreiter und immer mit Zustimmung zitiert. Wie die Jubelgesänge, so waren freilich auch die Datenkränze bestellte Arbeit, angefertigt, dem ersten Mann im Staate zu gefallen. Das Zahlenmaterial war so falsch wie die Geschäfte des Alexander Schalck-Golodkowski. Wenn Honecker sich öffentlich freute, dass Arbeiterfamilien in der DDR unter Verhältnissen lebten, von denen ihre Großeltern zur Kaiserzeit nicht hätten träumen können, dann bedachte er weder die Kosten, verursacht durch Subventionen und Preismanipulation, noch den Vergleich mit den kapitalistischen Ländern, an die er andere, böse Erinnerungen hatte.

Erich Honecker, geboren am 25. August 1912 in Neunkirchen (Saar), stammte aus einer politisch engagierten Arbeiterfamilie: Sein Vater war von der SPD über die USPD zur KPD gekommen, er selber mit vierzehn Jahren dem Kommunistischen Jugendverband und drei Jahre darauf "der Partei", der KPD, beigetreten. Es war die Zeit der sechs Millionen Arbeitslosen im Deutschen Reich, der wie die Partei befand Endkrise des Kapitalismus. Das alte System konnte nur im Faschismus enden oder in der Revolution. Zweifel an dieser Sicht der Dinge, folglich an der historischen Mission der Arbeiterklasse, hat Honecker nie gehabt. Auch daran nicht, dass nur die eine Partei, die KPD und nach 1946 die SED, stellvertretend für die Arbeiterklasse den Faschismus abwehren und die Revolution zum Sieg führen konnte. Und wenn er früh gezweifelt haben sollte, dann hat er sich das in der Schule der Kommunistischen Jugendinternationale in Moskau und beim Aufbau des Magnitogorsker Stahlwerks 1930 abgewöhnt. Als Hauptamtlicher kam er nach Deutschland zurück; das Wort Funktionär war links ein Ehrentitel. Jahre illegaler KPD-Arbeit in Hessen, Baden, Württemberg, im Ruhrgebiet und in der Pfalz folgten, dann am 4. Dezember 1935 die Festnahme durch die Gestapo, die Verurteilung wegen Hochverrats, Zuchthaus in Brandenburg-Görden von 1937 bis 1945. Dort befreite ihn die Sowjetarmee Ende April 1945. Die Fronten, sie waren klar. Die weitere politische Karriere auch. Von Anfang an gehörte Honecker zur Führung der KPD und, nach der Zwangsvereinigung mit der SPD, der SED; zuerst war er für die Jugendpolitik der Gruppe Ulbricht zuständig. Beim Aufbau der "antifaschistischen Jugendausschüsse" und der aus ihnen geschaffenen FDJ wirkte er entscheidend mit. Dort schuf er sich eine linien- und Erich-treue Hausmacht; von dieser Plattform sprang er 1958 ins Politbüro- der SED. Beim Bau der Berliner Mauer, die er bis zuletzt als "antifaschistischen Schutzwall" bezeichnete, leitete er 1961 die Vorbereitungen vom Posten des Sekretärs des Nationalen Verteidigungsrates der DDR aus. Geradezu automatisch wurde er 1971 Nachfolger des in der DDR tief verhassten Walter Ulbricht Nummer 1 im Staat. Die Fronten blieben, wie sie gewesen waren. Und doch schien ein linderes Lüftchen durch die DDR zu wehen. Es wich die Ur-Angst vor der politischen Polizei. Es gab ökonomischen Aufschwung, mehr Urlaub, mehr Lebensmittel. Moderater wurde der Ton gegenüber dem Westen. Schließlich war zu Honeckers Zeit die DDR weltweit diplomatisch vertreten. In dem Wort "anerkannt" durch über 130 Staaten schwingt mehr mit als der Hinweis auf einen diplomatischen Tatbestand: die Überwindung des Unterlegenheitskomplexes.

Nur, das blieb nicht so. Stasi, der Geheimdienst, verhaftete nicht gleich, aber überwachte um so penibler und umfassender. Literaten wurden nicht ein-, sondern, wie Wolf Biermann und viele andere, ausgesperrt. Die Läden blieben voll, wenn sie Exquisit oder Intershop hießen; die Geschäfte fürs Volk wurden trostloser von Jahr zu Jahr. Und was nützten schließlich aufwendige Staatsbesuche, wenn aus ihnen keine Weltoffenheit folgte?

Immerhin, auf einem wesentlichen Gebiet sicherte Honecker seinem Staat und dessen Nachbarn Wesentliches. Der Wiederverhärtung im ostwestlichen Konflikt widersetzte er sich. Da mochte Funkstille sein zwischen Moskau und Washington nicht so zwischen Ost-Berlin und Bonn. Der Raketen-Nachrüstung konnte die DDR nicht widersprechen, doch das "Teufelszeug" (Honecker) SS-20 wollte er "nicht haben". Dass in Europas Mitten die Entspannung anhielt, ist auch Honeckers Verdienst: Er beharrte.

Schließlich aber reicht Beharren nicht aus, um Politik zu machen. Honeckers Führung schloss sich willentlich von den Reformen in der Sowjetunion und den anderen sich sozialistisch nennenden Staaten aus. Wenn der Nachbar renoviere, müsse man ja nicht "seine Wohnung ebenfalls neu tapezieren", sagte Partei-Ideologe Kurt Hager im April 1987 höchst abschätzig der Illustrierten stern . Der Vergleich war dem früheren Bauhandwerker Honecker ohne weiteres verständlich. Er propagierte denn auch das Bewährte: "Sozialismus in den Farben der DDR" hieß die Alternative zum "Tapetenwechsel".

Das Volk aber entzog sich der Führung und stimmte mit Füssen für die Alternative (West). Darüber stürzte der Staats- und Parteichef schließlich, den niemand mehr "unser Erich" nannte.

Der Apparat hatte ihn längst nicht mehr verehrt; er hat ihm geschmeichelt, weil er der Vorgesetzte war. Als im Sommer 1989 das Zeichen aus Moskau kam (" Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben", sagte Michail Gorbatschow), ließ er ihn fallen: "Erich, es geht nicht mehr", befand der alte Kampfgenosse Willi Stoph. Und das Volk hat ihn nicht geliebt; im Gegenteil. Als er aus dem letzten kirchlichen Obdach in Lobetal umsiedeln wollte nach Lindow, bildete sich Buergerprotest: Mit so einem wollten die braven Buerger jener Kleinstadt nicht in irgendwelcher Nachbarschaft leben müssen.

Der Fall war tief. Aber auch der Apparat war längst gefallen, die DDR eine andere Republik geworden. Honecker hat es noch erleben müssen, wie sie nach überwältigendem Volksvotum, begünstigt durch ein unerwartetes Einlenken der "unverbrüchlichen Freunde" in Moskau, der Bundesrepublik beitrat und aufhörte, als Staat zu existieren.

Seine eilige Abreise nach Moskau in die chilenische Botschaft, nach kurzer Haft, hatte noch einen Hauch Trotzigkeit an sich; als die russischen Behörden im Juli 1992 seiner "Rückführung" nach Deutschland zustimmten, war die emporgereckte Faust nur mehr eine Geste, die Hilflosigkeit ausdrückte. Dem Prozess, der seine Verantwortlichkeit für die Todesschüsse an der Staatsgrenze (West) belegen sollte, konnte er aus Gesundheitsgründen nicht mehr folgen. Chile hat ihn noch aufgenommen, eine Dankesschuld abtragend für die Solidarität, die Honecker und sein Staat den chilenischen Verfolgten nach dem Militärputsch von 1973 erwiesen hat. Dass ihm letztlich nur diese Anerkennung noch blieb, ist erst recht ein Beweis des Scheiterns.