Ein Mensch Gottes mit seinem Widerspruch

Zum Tod Yon Martin Niemöller

Frankfurter Rundschau, 8. März 1984
"Wenn tausend Pfarrer von Sünde sprechen, so macht das nicht den geringsten Eindruck. Wenn ein, Kirchenmann aber ,Verbrechen' sagt, so wird das als Ärgernis aufgefaßt. Ich werde nur noch ,Verbrechen' sagen." Das Wort eines Bekenners, gesprochen in Kassel (1959), als die Wiederaufrüstung gerade eben beschlossene Sache war. Der es sprach, war Martin Niemöller, der kämpferische Christ und unbeugsame Geist, der nun kurz nach seinem 92. Geburtstag gestorben ist.

Niemöller fand, im Zeitalter der Massenvernichtungsmittel sei die Ausbildung des Soldaten der Ausbildung zum Verbrecher gleich. Kein Wort hat damals, vor fast genau 25 Jahren, derart polarisierend gewirkt zwischen denen, die die Bunddeswehr als notwendig (vielleicht auch als notwendiges Übel) empfanden, und denen, für die sie schlicht von Übel war.

Es war folgerichtig, daß Martin Niemöller, Kirchenpräsident der Vereinigten Landeskirchen von Hessen und Nassau, dann auch Präsident der Deutschen Friedensgesellschaft wurde, dort ebenso unbequem wie auch sonst in der Nachkriegsgesellschaft des deutschen Westens, in seiner Konsequenz aber Vorbild für den pazifistischen Teil der Nachkriegsgeneration, mochte sie christlich sein oder sich von Kirche und Verkündigung verabschiedet haben.

Niemöllers Konsequenz ist seinem Lebensweg eigen gewesen. Er war im zehnten Jahr dieses Jahrhunderts in die Kaiserliche Marine gegangen, war U-Boot-Kommandant im Ersten Weltkrieg, danach Theologe und blieb dies unbeirrbar. So sehr er den einen Idol war, so sehr war er den anderen verhaßt, denen, von welchen er sich getrennt hatte. Verhaßt den Anpassern, die nach 1933, als Martin Niemöller Pfarrer in Berlin-Dahlem war, ihren Kompromiß mit dem Hitlerstaat schlossen; in Dahlem predigte er bis 1937, Mann einer Kirche, die sich bekennend nannte und nicht großdeutsch.

Diese Bekennende Kirche wurde, je länger die Nazi-Diktatur dauerte, desto mehr Sprecher des Widerstands. Sie gab ihren Mitgliedern Mut, weil sie mutig war, und Niemöller hatte gelernt, "daß man sich nicht mehr fürchten muß als unbedingt notwendig". Acht Jahre in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Dachau waren der Preis der Furchtlosigkeit.

Doch erstaunlich; während Generalsuperintendent Otto Dibellus meinte, die Kirche habe "1945 da wieder anzufangen, wo wir 1933 aufgehört haben", verstand Niemöller sich auch als Mittäter, "wir bekennen, daß wir nicht brennend genug geliebt haben", er verstand es als Schuld, daß er bis 1933 Hitler vertraut hatte und daß es den Deutschen, die wußten, daß es nicht nicht gelungen war, den braunen Fanatismus auf dem Weg an die Macht, in die Massenverfolgung und in den Krieg aufgehalten zu haben. Anfangen, wie man aufgehört hatte - das hätte die Wiederholung eines Duckmäusertums bedeutet, das die Kirche in letzter Logik auch einem verbrecherischen Staat untertan macht.

Die Kirche konnte für ihn vieles sein, aber nicht Gehilfe staatlicher Autorität, und da er just dies in den evangelischen Kirchen sich entwickeln sah, konnte er über die "Firma" später sagen: "Ich habe unter der Kirche nach 1945 mehr gelitten als unter dem ganzen Nationalsozialismus." Was wieder viele fälschlich als Verharmlosung des Hitler-Systems zu verstehen meinten.

Dies aber war wohl das geringste Mißverständnis, dem sich Niemöller ausgesetzt sah. Für ihn, der die Menschheit als einiges Geschöpf verstand, war es selbstverständlich, auch mit Sowjetmenschen zu reden, 1952 reiste er zuerst nach Moskau; einer, der konsequent den Frieden für unteilbar ansieht, mußte nach seinem Verständnis auch in der (Prager) Christlichen Friedenskonferenz mitarbeiten, er konnte nicht Leuten die Zusammenarbeit verweigern, nur weil sie Kommunisten waren, wenn sie für Versöhnung und Frieden auftraten.

Da mag der Vorwurf der politischen Naivität nicht ausbleiben. Da mochte auch Niemöller von seinen Gegnern als "nützlicher Idiot Moskaus" abgetan werden. Doch sein Menschenbild war in anderem Sinne politisch, als seine Gegner und wohl auch viele seiner Bewunderer vermutet haben: Er sah alle Menschen als Geschöpfe Gottes, ausgestattet auch mit der Möglichkeit, Fehler zu machen; Weltanschauungen und Religionen, auch Atheismus, können die Eigenschaft des Menschlichen nicht nehmen. In diesem Sinne, übergreifend, war Niemölle nicht apolitisch, aber jeglicher politischer Bindung fern.

Der unbeugsame Martin Niemöller ist oft geehrt worden; den Lenin-Friedenspreis (ihn anzunehmen rückt jeden Bundesbürger in roten Verdacht) stiftete er zu gleichen Teilen einem Krankenhaus in Nordvietnam und der Deutschen Friedensgesellschaft, er trug indes auch die höchsten Auszeichnungen der Bundesrepublik und des Landes Hessen, die goldene DDR-Friedensmedaille und die Albert-Schweitzer-Friedensmedaille.

Ein Welt-Christ also? Seiner Heimatstadt Lippstadt (in Lotte bei Lippstadt ist er am 14. Januar 1892 geboren) war er eher verdächtig. Über Jahre hat sich der Versuch einiger engagierter Bürger von Lotte hingezogen, ihm die Ehrenbürgerwürde zu verleihen; das lehnte der Gemeinderat Ende 1982 ab, weil er als "fanatischer Pazifist" (welche Gesellschaft ist das, in der Pazifismus und Fanatismus sich begrifflich verkoppeln können?) "sein eigenes Vaterland beschimpft" habe.

Wenn einer wie Martin Niemöller in seiner Religion sein Vaterland sieht, mag ihn dies letztlich wenig berührt haben. Wenn aber einer den Weg gefunden hat vom U-Boot-Kommandanten über den Leiter eines rechtsradikalen Freikorps bis zum Verdacht, so anders als alle zu sein, daß er eigentlich nur ein Roter sein könne, so zeigt dieser Lebensweg durch seine Ungewöhnlichkeit, was wir alles als gewöhnlich zu betrachten uns anerzogen haben. Große der Art Martin Niemöllers werden wohl immer umstritten bleiben, zu Lebzeiten und nachher.