Abschied von der Kommandobrücke

Herbert Wehner kandidiert nicht mehr für den SPD-Platz Nummer zwei

Frankfurter Rundschau, 17. März 1973
Herbert Wehner, bald 67 Jahre alt, kandidiert nicht mehr für das Amt des stellvertretenden Parteivorsitzenden, und Ratlosigkeit stellt sich ein. Keiner seiner Intimfeinde, und deren hat Wehner viele, hätte nun mit einem Wort wie "endlich" reagiert. Auch wenn Wehner dem Bundestag, der Fraktion, der SPD und damit der Politik erhalten bleibt - auf der Kommandobrücke der Partei wird er vermutlich fehlen, wenn er auch nicht allen fehlen wird. Die SPD von Bad Godesberg, die nun zum Nachdenken über sich selbst gezwungen ist, ins Reich der theoretischen Überlegungen abermals hinaufgehoben wird, war von wenigen so sehr geprägt und so sehr auch in ihre Rolle hineingeprügelt worden wie von Herbert Wehner.

Seine Genossen aus der engeren Umgebung wissen über seine Art einiges zu sagen, über seine Ungeduld, mit der er nicht rasch genug Umschwenkenden Taktik begreiflich machte. Sie wissen, wie er - wenn er es für nötig hielt - mit der Zuchtrute die Parei auf seinen Kurs gebracht hat; sie wissen aber auch, wie er sich selbst dabei gequält hat. Das Beispiel: Als die SPD ein neues Verhältnis zu den Kirchen suchte, gab Wehner den Anstoß. Da mußte auch ein sichtbares Zeichen gesetzt werden; der Übertaktiker der Partei setzte es nach einem langen Kampf mit sich selbst. Er und kein anderer stand eines Tages auf der Kanzel der Hamburger Michaeliskirche und predigte.

Das war freilich nicht mehr der Politiker, den die andere Seite der deutschen Innenpolitik in Bonn als den roten Buhmann aufgebaut hatte. Herbert Wehner, in jungen Jahren Schüler Erich Mühsams, folglich Anarchist, hatte in Dresden zur KPD gefunden, nach Hitlers Sieg in Moskau überlebt und dann in Schweden den Absprung gefunden. Da gibt es Legenden. Die eine handelt vom Verrat, sie ist nie relevant geworden, Kommunismus war ja nicht gefragt. Die andere sah Wehner als einen extremen Linken an. So sagte Konrad Adenauer einmal, die ganz SPD sei "unterwehnert". Ein böses Wort, dem Objekt nicht gerecht, aber seinem Format, einer eigenen verbaler Schärfe durchaus würdig.

Diese Legende ist später von den sächsischen Sozialisten abgefallen. Da kam die andere auf, er wolle die SPD entpolitisieren. Auch diese Legende war falsch; die Partei wurde freilich anders. Sie öffnete sich, Wehner zwang sie aus der Isolierung ihres traditionellen Drittels der westdeutschen Wählerschaft heraus in die Rolle der Volkspartei, die nun freilich an ihren eigenen, solchen Parteien eigenen Widersprüchen zu laborieren begann.

Daß die Sozialdemokraten um Willy Brandt heute in Bonn regieren, wohl auch, daß sie die stärkste Partei in der Bundesrepublik geworden sind, geht zum guten Teil auf Wehner zurück. Seine dramatische Wendung von einem Mann, den man fälschlich für einen Proporzvertreter des klassischen linken Flügels hielt, (der immerhin noch den Deutschlandplan verfaßt hatte), zum Vorkämpfer der gemeinsamen Außenpolitik mit der CDU war der erste Schritt dahin; durch Wehners Wirken vom Schaltpult der Partei aus hat diese sich verändert, freilich um den Preis ihres theoretischen Selbstbewußtseins.

Und das andere Kapitel auf dem Weg in die Bonner Verantwortung, das in wesentlichen Teilen von Person und Kampf Willy Brandts handelt, hat er ebenfalls mit verfaßt. Als Brandt resignierte nach einem ausgebliebenen Wahlsieg 1965, war Wehners "Du mußt!" unerbittlich; denn Mitleid mit Schwächen anderer oder seiner selbst kennt er nicht, läßt es jedenfalls nicht merken.

Wehner ist einer der wenigen Vollblutpolitiker, die es in Bonn gibt, nicht dahin tendierend, über seine eigenen Füße zu stolpern wie Strauß, auch nicht fähig, nach allen Seiten umzufallen wie weiland Erich Mende. Er geht seinen Weg, und wer es nicht sofort begreift, den hat er noch immer mit der Härte, deren ein aus dem Apparat stammender und den Apparat beherrschender Mann fähig ist, auf seinen Kurs gezwungen.

Nun gibt er einen Posten ab. Damit zollt er Privatem seinen Tribut. Gesund var er seit Jahren nicht mehr; es mag ihn auch physisch treffen, daß die Partei, so, wie er sie umgeformt hat, nun loch nicht vollkommen ist, daß ihre Mission sich allmählich erfüllt. Sein angsamer Abschied von der Macht ist la ein Sinnbild, das Beträchtliches ausagt.