Ein Mann zwischen Vision und Wirklichkeit

Ägyptens Präsident Gamal Abdel Nasser blieb bis zuletzt Volkstribun / Lebensfragen des Landes sind ungelöst

Frankfurter Rundschau, 30. September 1970
Die arabische Welt trauert um einen großen Mann, der ihr Führer und Einiger sein wollte: Gamal Abdel Nasser. Die Rundfunkstationen des Nahen Ostens, soweit sie arabische Idiome sprechen, schalteten am Montag abend der Reihe nach um auf ernste Musik und Koransprüche. Dann, gegen neun Uhr abends, trat Vizepräsident Anwar el-Sadat an die Mikrofone. "Die Vereinigte Arabische Republik, die arabische Nation und die ganze Menschheit haben heute abend einen der geachtetsten Männer, einen der tapfersten Männer, einen der aufrichtigsten Männer verloren, Präsident Gamal Abdel Nasser."

In Kairo zogen weinende Menschen durch die Straßen. Geschäfte schlossen, Kinos unterbrachen ihre Programme, und allmählich gingen die Neonreklamen über den Straßen der ägyptischen Hauptstadt aus. Überall in den ägyptischen Staaten klangen in den Moscheen Koranverse und Gebete für Nassers Seelenheil auf. Staatstrauer wurde ausgesprochen, in Tunesien wie in Syrien, in Marokko wie in Sudan.

Alarm am Suezkanal

Zugleich aber setzte die ägyptische Armee ihre Wachen am Suezkanal in höchste Alarmbereitschaft: In dieser Stunde der Trauer, der Lähmung, rechnete der Kairoer Generalstab mit einem Schlag der israelischen Armeen.

Auch dies gehört zum Bild, das Nassers plötzlicher Herztod in die Landschaft malte: In den arabischen Staaten, die Nasser verehren, feuerten Verzweifelte ihren Todessalut für den ägyptischen Präsidenten in wilden Salven in die Luft. US-Präsident Richard Nixon aber sagte ein Übungsschießen auf dem Flugzeugträger "Saratoga" ab; Schüsse, von denen jeder hätte annehmen können, daß sie auf bewegte ägyptische Ziele abgefeuert würden, hätten makaber geklungen.

Nasser ist am Montag einem Herzschlag erlegen. Er hatte wenige Stunden nach einer politischen Handlung, die er als einen der letzen fragwürdig-fadenscheinigen Höhepunkte seiner politischen Karriere empfinden konnte, ein Unwohlsein verspürt. Noch einmal hatte er den symbolischen Händedruck der arabischen Einheit zustande gebracht: Hussein und Arafat, die aufs Messer verfeindeten jordanischen Rivalen, besiegelten den Pakt, dessen Dauer von vornherein skeptisch beurteilt worden war. Nasser war Urheber und Zeuge der symbolischen Handlung gewesen. Dann brachte er den Prinzen von Kuwait zum Flugplatz. Plötzlich benommen, brach er mit einem Schwächeanfall zusammen. In seinem Haus in Manchiet el-Bakry diagnostizierte eine größere Zahl von Ärzten: Herzanfall. Medizinische Hilfe war vergebens, und so konstatierten die Ärzte in ihrem Bulletin schlicht: "Gottes Wille war stärker."

"Ohne Steuermann"

Die Persönlichkeit Nassers ist in der arabischen verworrenen politischen Szenerie kaum zu ersetzen. Wenn ihm auch nicht alles gelang, was er anpackte, so blieb er doch für die Massen ein Magnet. "Ohne ihn sind wir ein Schiff ohne Steuermann": Mit diesem Satz, der in Kairo immer wieder gesprochen wurde, ist die Lage zureichend umrissen. AP zitierte einen Taxifahrer: "Wir werden nie mehr einen besseren Mann bekommen." Der Tod, nach den ersten Nachrichten über den Gesundheitszustand des ägyptischen Präsidenten vor Jahren schon erwartet, hat die Bedeutung des Rais, des politischen und militärischen Führers, zweifellos überhöht. Doch es bleiben Fragen genug, auch bei nüchterner Betrachtung. Fragen, die dem zukünftigen Schicksal Ägypten und seiner arabischen Nachbarn gelten.

In seiner Weise war Nasser Inbegriff dieser werdenden Nation mit ihren Widersprüchen. Held der Sowjetunion, Held der Araber als Führer zur Einheit glücklos, als Retter der ägyptischen Wirtschaft ohne sonderliche Fortune, doch immer der charismatische Volkstribun, zu rhetorischen Exzessen ebenso neigend wie zu nüchternem Kalkül fähig: Nasser war Inbegriff einer Epoche.

Der Phantasie geglaubt

Der Phantasie geglaubt Er selbst hat, vor 18 Jahren schon, erkennen lassen, wie er dachte und handelte, als er den Umsturz jenes Jahres beschrieb. "Ich dachte, wir brauchten nur die Avantgarde und eine Art Kommandotruppe der Revolution zu sein, und es würde genügen, wenn wir die Front ein paar Stunden lang hielten; dann würden gleich hinter uns die Massen in geschlossenen Reihen und donnerndem Marschtritt kommen, und der Vormarsch würde geordnet dem großen Ziel entgegengehen. So stark glaubte ich daran, daß diese Phantasie für mich mehr als eine bloße Vision war und ich den Marschtritt wirklich zu hören glaubte."

So beschrieb Gamal Abdel Nasser in seiner Broschüre "Die Philosophie der Revolution" im Jahre 1952 seine eigene Ansicht von dem revolutionären Umsturz, der den Despoten und Playboy Faruk vom ägyptischen Thron stürzte und die erste Militärrevolte in der Geschichte des neuen Nahen Ostens siegen ließ.

Auch später ließ Nasser sich häufig vom vorgestellten Marschtritt der Geschichte mitreißen, Traum und Wirklichkeit verwechselnd, einem großen Ziel nachstrebend, das sich bei konkreterem Hinschauen mit der Realität nicht ganz vereinbaren ließ. "Wer mitten im Wirbel steht, wird sich kaum je der Dinge bewußt, die außerhalb dieses Wirbels vor sich gehen."

Der politische Wirbel war immer Essenz seines Handelns. Wirbel, der begeistern, mitreißen, auch Ziele deutlich machen sollte; aber Wirbel, der auch den Wirbelnden in seinen Bann zog und ihm den Blick auf die Wirklichkeit versperrte. Seiner Rhetorik, die oftmals die Grenzen der Demagogie überschritt, glaubte er zuweilen selbst. Doch eben dies gehört untrennbar zum Rausch der Freiheit, der Unabhängigkeit, die mit Nasser und seinen Mitverschworenen im "Komitee der freien Offiziere" kam und doch mehr Verheißung denn gleich greifbare Realität war.

Nasser hat sich früh als Patriot und politischer Kämpfer qualifiziert. 17jährig machte er erste Bekanntschaft mit damals noch britischen Gefängnissen wegen "umstürzlerischer Tätigkeit". Mit 19 Jahren besuchte er die Militärakademie, mit 22 war er Leutnant. Und acht Jahre später gehörte er zum Offiziersbund, der Faruk, den letzten korrupten König am Nil, stürzte.

"Eine Frage ist hartnäckig immer wieder an mich herangekommen: War es nötig, daß wir als Armee das taten, was wir am 23. Juli 1952 getan haben? " So fragte Nasser sich selbst in seiner Philosophie der Revolution". Damals war er noch Mann im Hintergrund; General Naguib schien der Gewinner des Umsturzes zu sein. Doch das Offiziers-Komitee war in sich selbst uneins. Es umfaßte Personen wie Nasser selbst, die in vagen Umrissen einen arabischen Sozialismus vor sich sahen. Dazu gehörten andere, mit den "Moslembrüdern" verbunden, die in dem politischen Umsturz bereits die Lösung aller Fragen sahen und sich im Grunde nach mittelalterlichen Feudalstrukturen zurücksehnten. Es gab Anhänger des westlichen Weges, Kopierer, denen die Bedingungen ägyptischer Geschichte und Gegenwart unverständlich blieben. Mit diesen Widersprüchen mußte die Junta von Kairo zunächst leben.

Nasser löste sie auf seine Weise, nachdem er am 17. Januar 1953 stellvertretender Stabschef und am 18. Mai desselben Jahres Vizepräsident des Revolutionären Kommandorates und Innenminister geworden war. Mit harten Schlägen ging er gegen Moslem-Bruderschaft, die nationalistisch-konservative Wafd-Partei und die Kommunisten vor. Im Februar 1954 wagte er auch den Machtkampf mit General Naguib. Seither war er der Rais, der Boß, der Herr im Kairoer Haus.

Schwanken und Schaukeln zwischen den Weltmächten, zugleich der ernsthafte Versuch zu sozialer Reform zeichneten seine ersten Amtsjahre aus. Es gelang Nassers Führung, das jahrhundertealte Elend Ägyptens wenigstens zu mildern. Industrien entstanden, der Lebensstandard hob sich, und zunächst beherrschten innenpolitische Erfolge seine Politik. Doch zugleich mit der Rolle des nationalen Führers Ägyptens übernahm Nasser, mehr von den Verhältnissen getrieben als von eigenen Ambitionen beseelt, auch die andere Rolle des arabischen Führers. Der Abschluß des Bagdad-Paktes und die Präsenz britischer Truppen am Suezkanal zwangen ihn zu schärferer profilierter, antiimperialistischer Politik. Der "positive Neutralismus", den er in Bandung 1955 proklamierte, die Aktion gegen den Suezkanal, den er im Sommer 1956 endgültig unter nationale ägyptische Kontrolle stellte, und souveränes Ausspielen der Amerikaner gegen die Sowjets und umgekehrt trugen ihm legendären Ruf ein.

Doch weder die Dulles-Politiker in Washington noch die alter kolonialer Glory nachtrauernden britischen Konservativen konnten sich mit dem Verlust des ägyptischen Protektorats abfinden. Sie verweigerten Nasser die erbetenen Kredite für große Entwicklungspläne, von denen der nun fast vollendete Assuan-Damm nur das bekannteste Beispiel ist. Sie trieben Nasser an die Seite Moskaus, und auch Israel im Oktober 1956 in den Krieg gegen Ägypten hinein. War Nasser schon seit 1954 als politischer Gegner Israels aufgetreten, so löste die Suez-Aktion vom Oktober 1956 in Kairo und ringsum vollends eine Dialektik von Demagogie und Haß aus, die Frieden mit Israel vereitelte: "Ich will mit Israel weder Krieg noch Frieden, denn dieser ist unmöglich", sagte Nasser 1963 dem französischen Journalisten Eric Rouleau.

Der Sechstagekrieg 1967, heraufbeschworen durch ein neues Wechselspiel von Demagogie und Irrationalität, Versagen der Vereinten Nationen und Lebensgefahr für Israel, schien Nassers politisches Überleben zu gefährden. Er trat ab - wiederum nicht, um abzutreten, sondern um im Triumph wiederzukommen. Freilich trug er schwer an der militärischen Niederlage und an der durch sie verstärkten Abhängigkeit von der Sowjetunion. In Yassir Arafat erwuchs ihm ein mächtiger Rivale im Kampf um die Rolle des panarabischen Führers; doch bis zuletzt ist Nassers Charisma geblieben.

Er starb nach einem symbolischen Akt: der Händedruck zwischen arabischer Revolution und arabischer Restauration, Arafat und Hussein, war zu einem guten Teil Schaugeschäft. Er hat längst nicht alle Fragen gelöst, viele wurden nur verdrängt und bleiben damit. Nasser hat ein unfertiges Haus hinterlassen. Es muß noch bestellt werden.