Leitartikel: Jetzt, nach Sarajevo

Frankfurter Rundschau, 31. August 1995
Der jugoslawische Nachfolgekrieg ist das Kind einer Politik, an der Jugoslawien gestorben ist. So harmlos ist aber Krieg nicht mehr wie in dem 163 Jahre alten Satz des Karl von Clausewitz, er sei "nichts als die Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel". Die kriegführenden Militärs im ehemaligen Jugoslawien streben nicht politische Ziele an. Sie können sich eine "Lösung" kaum mehr vorstellen ohne die massenhafte Vertreibung ganzer Völker; sie machen die "ethnische Säuberung" zum Prinzip; sie akzeptieren diplomatische Versuche, die Waffen zum Schweigen zu bringen, höchstens als Fortsetzung ihrer Kriege mit nichtmilitärischen Mitteln.

Dies ist die Konsequenz aus der Adoption des Nationalismus, den die Erben der alten Herrschaft in ihren neuen Staaten und Territorien zur Rechtfertigung der jeweils eigenen Macht an die Stelle politischer Theorien gesetzt haben. Fraglos ist selbst die Einrichtung von Schutzzonen in Bosnien-Herzegowina noch ein Ergebnis dieser Reduktion auf das Ethnische. Erst Krieg, Staatsstreich und Aufstand aus den Reihen der Nomenklatura heraus haben eine Situation geschaffen, in der jeder Einzelne einer Ethnie zugerechnet wird, ob er will oder nicht. Es war der Totenschein der Politik, die vorweggenommene Todesurkunde für Zehntausende.

Der "bisher größte Schritt zum Frieden" waren die stundenlangen Luftangriffe auf bosnisch-serbische Stellungen wohl nicht, auch wenn Bosniens Ministerpräsident Haris Silajdzic diese Formulierung gebraucht hat. Es ist vielmehr eine Eskalation geschehen, die der bosnisch-serbischen Seite die eigene Unterlegenheit im "Ernstfall" aufgezeigt hat. Daß unter der Wechselwirkung von Aufstand, Eroberung, Granatenterror und Luftangriffen sich die Militanten in Friedensparteien verwandeln könnten, ist Wunschdenken. Es ist Wunschdenken, daß in "ethnisch gesäuberten" Gebieten Frieden herrschen werde; es wird vielmehr ein neues revanchistisches Potential geschaffen, möglicherweise über Generationen hinaus.

Daher sind Vertreibung und Flucht aus der Krajina, durch die Franjo Tudjmans kroatisch-nationalistische Regierung ihr Territorialprinzip durchgesetzt hat, alles andere als Element eines künftigen, sicheren Friedens, so gewiß auch das genannte Territorium historisch immer kroatisch war (und die serbische Ansiedlung Teil der gegen das weiland Osmanische Reich gerichteten "Militärgrenze"). Die Teilung Bosniens ist es ebenfalls nicht, selbst wenn es dem mit allen Wassern gewaschenen serbischen Präsidenten und klein-jugoslawischen Spitzenpolitiker Slobodan Milosevic gelingt, den Ultras im eigenen Lager das Ergebnis schmackhaft zu machen mit dem Hinweis auf die Konföderation, die den Serben Bosniens möglich gemacht werde, und der Erklärung, insofern sei die allserbische Vereinigung doch erreichbar. Gerade damit ist neuer Konflikt gesät; denn die Ethnisierung des ex-jugoslawischen Komplexes ist damit alles andere als aufgehoben.

Vielleicht haben die durch kriegerisches Handeln und die Abwesenheit eines politischen Willens zum Kompromiß geschaffenen Fakten keinen anderen Ausweg aus dem gegenwärtigen Krieg gelassen. Eine Friedenslösung muß jedoch weiter greifen. Sie muß jedem der Nachfolgestaaten zwingend aufgeben, die Rechte aller Minderheiten zu schützen. Nicht indem sie weiterer Ethnisierung den Weg freimacht, sondern indem sie den Schutz der Menschenrechte als Individualrechte in jedem Staat, in jeder Gemeinde Mittel zur Durchsetzung gibt. Es bestehen in jedem der kriegführenden Staaten und Territorien Strömungen und Organisationen, die solchen Friedenskonzepten verpflichtet sind. Sie sind in alle Überlegungen und Verhandlungen einzubeziehen, welche die Zukunft der Region betreffen; denn an die Umrisse des Friedens kann nicht erst dann gedacht werden, wenn die Magazine leergeschossen sind.

Es fragt sich, wozu die direkt und indirekt am Konflikt Beteiligten außerhalb Jugoslawiens in der Lage sind. Das Waffen- und Kriegsmittel-Embargo ist verkündet, aber nie durchgesetzt worden; die von ihm betroffenen Anrainerländer haben nie Kompensationen für die dennoch erlittenen Verluste erhalten; sie können daher materiell nicht sehr interessiert an Liefersperren und an Kontrollen sein. Das Embargo zugunsten einer Partei aufzuheben, ist aber Teil neuer Eskalation.

Die droht auch aus anderem Zusammenhang. Es ist der alte cauchemar des coalitions, der Alptraum der Bündnisse. Aufschaukelung des Krieges zwingt Westeuropa einerseits, Rußland andererseits, womöglich einige islamische Staaten dritterseits in konfrontative Parteinahme. Nicht weil es alte Waffenbrüderschaften oder Solidaritäten gäbe, das ist eine romantische, gleichwohl böse Historisierung; sondern weil es Interessengegensätze gibt.

Zu deren Ausgleich, zur Stiftung von Kompromissen, sind die UN berufen. Das fordert ihnen zweierlei ab: Gemeinsam mit allen in Ex-Jugoslawien Beteiligten Ziele für den Frieden zu entwickeln - und den Kriegswilligen die Mittel nachhaltig zu entziehen. Jetzt, nach Sarajevo, muß das in Angriff genommen werden.