Leitartikel: Das Ende eines Weltreichs

Frankfurter Rundschau, 10.12.1991
Weltreiche zerfallen nicht an einem Tag. Der Auflösungsprozess ist lang und schmerzhaft, hat sich lange angekündigt, wird von den Akteuren indes nicht immer als solcher erkannt. Einsichtigere hoffen nach der letzten Stunde noch, dass Reformen das Bewährte retten könnten, selbst dann noch, wenn offenkundig nichts Bewährtes mehr vorhanden ist. Sie verstehen als Chaos oder gar Verschwörung, was sich vor ihren Augen abspielt: Das Aufkommen neuer Kräfte, denen im alten Reich kein Raum gegeben schien; das Eskalieren sozialer Konflikte, die das überkommene Regelwerk nicht mehr regelt; Ethnizismus und Regionalismus, fundamentale Demokratiebewegungen und, auf der anderen Seite, anschwellende Sehnsucht nach dem starken Mann, der aus der Zukunft kommen soll; denn mit dem verrottenden Reich ist seine Vergangenheit diskreditiert. Je länger sich ein Weltreich überlebt, je weniger seine Führungen Einsicht in die Notwendigkeit der radikalen Veränderung zeigen, desto mehr verfestigen sich die aufstrebenden Kräfte zu Organisationen, desto unversöhnlicher werden die Fronten, und umso härter werden die Nachfolgekämpfe. Dies alles hat die Sowjetunion erlebt. An diesen Konflikten ist sie zugrundegegangen. Das Treffen von Brest, symbolträchtig am westlichsten Ende der ehemaligen UdSSR, hat den Rest ihrer staatlichen Existenz beendet.

Dass sich die drei slawischen Republiken Russland, Ukraine und Bjelorussland durch ihre Präsidenten als ein neuer Bund konstituiert haben, mag erscheinen wie ein Staatsstreich. Doch war da noch ein Staat? War die Sowjetunion zuletzt wirklich noch mehr als der Wunschtraum Gorbatschows und jener Apparatschiki, für die in keiner neuen Ordnung Platz sein wird? Der Dreibund, dessen neues Zentrum Minsk - sinnbildhaft weit westlich von Moskau - werden soll, schafft erst den Ansatz neuer staatlicher Zuordnung; die Staaten selber bestehen längst unterhalb dieser Ebene. Ihre führenden Schichten haben keinen zentralen Bund mehr gewollt. Das war klar seit dem gescheiterten August-Putsch; das wurde unabweisbar seit dem ukrainischen Referendum.

Danach war kein Unionsvertrag mehr zu haben, nicht einmal einer von unten, den die regionalen Eliten miteinander, und zwar bewusst gegen die zentralen Apparatschiks, hätten aushandeln können. Es ging nur mehr um das Arrangement neuer souveräner Staaten. Deren neue Herren sind in vielen Fällen identisch mit den regionalen Machteliten, die aus dem Zusammenbruch so viel von der alten Substanz für sich retten wollen, wie sie haben können.

Eine Revolution also hat nicht stattgefunden, weder nach dem 19. August, als sie in der Volksabwehr gegen die Putschisten einen historischen Augenblick lang möglich schien, noch jetzt. Neue Legitimität ist freilich gestiftet worden - durch Elitenwechsel, durch die entschlossene Machtpolitik Boris Jelzins, der dabei die Grenzen seines demokratischen Mandats kräftig, aber unvermeidbar überschritten hat. Den Rhythmus der Veränderung bestimmen politische Führer wie Jelzin wohl in gewissem Maß; die Veränderung selbst wird durch die Verhältnisse und ihre konkrete Entwicklung diktiert. Unabweisbar war eine Einigung zwischen Russland, der Ukraine und Bjelorussland (Kasachstan wird hinzukommen müssen), weil in diesen Republiken strategische und taktische Atomwaffen stationiert sind. Oberkommandierender mag der Form nach noch immer Gorbatschow sein; doch ein Oberkommandierender braucht eine nachgeordnete Befehlskette. Die war, im Dezember in Kiew, zerrissen. Unabweisbar war die Einigung auch, weil keine einzige der Republik-Volkswirtschaften für sich weiterexistieren könnte ohne äußerst schmerzhafte Verletzungen; die frühere Sowjetwirtschaft war allzu vernetzt. Unabweisbar war schließlich das besondere Gewicht Russlands - und die Unmöglichkeit, allein das Erbe der Supermacht anzutreten. Die Sowjetunion hat, wie jedes fallende Weltreich, Erbmasse und Altlasten hinterlassen.

Zum Erbe gehört ein unerhörtes ökonomisches, militärisches, kulturelles, wissenschaftliches Potential, das ganz zugrundezurichten der bürokratisch-zentralistischen Unfähigkeit denn doch nicht gelungen ist. Dieses Potential wird sich zu neuer Weltbedeutung kristallisieren; das will Weile haben. Das setzt voraus, dass demokratisch legitimierte Institutionen bald entstehen. Jelzin und seine neuen Verbündeten mögen unter dem Zwang der Realitäten nun zu autoritären Lösungen neigen, die kurzfristig erfolgreich scheinen. Gegen das Volk könnten sie nur regieren, indem sie sich auf die Ebene der Altgardisten begeben; denen sind sie im Metier der Diktatur letztlich kaum gewachsen. Einer Putsch- Gefahr können sie ohnehin nur durch Unterstützung und das Vertrauen des Volkes begegnen. Die Altlasten wegzuschaffen, von der ökologischen Verwüstung im allgemeinen über die Folgen von Tschernobyl im besonderen bis zur Verarmung Dutzender Millionen, von der Überrüstung (wohin mit Millionen abgemusterten Soldaten? Wohin mit einem rostenden Riesen-Arsenal?) bis zum kolonialen Status Mittelasiens - das bedarf einer kollektiven Mühe, die vom Kollektiv, dem Volk, eindeutig legitimiert sein muss, bei Strafe neuer Diktatur.

Letztere Gefahr droht ohnehin von rechts. Gorbatschow hat sie gerade wieder herbeigeredet. Nur würden die Rechten, die Gestrigen, sie eher gegen ihn errichten wollen, wenn sie könnten: Sie wissen, dass das Ende des Weltreichs alter Art auch ihr Ende ist.