Leitartikel: Das Erbe einer Supermacht

Frankfurter Rundschau, 31. August 1991
Die Todesanzeige für die Sowjetunion ist schmucklos, ohne schwarzen Rand erschienen; sie hätte mit den weiß-blau-roten Farben Russlands und den blau-gelben der Ukraine verziert sein können. Das Erbe der Supermacht gleichen Namens hat eine mehrgliedrige Konkursverwaltung mit Hauptabteilungen für Sicherheit und für Wirtschaft angetreten. Unterdessen ordnen die früheren Unionsrepubliken, jetzt als mündige Völkerrechtssubjekte agierend, den Bestand neu.

Wenn sie gegen Jahresende - die Ukraine, ein eminent wichtiger Partner, wird erst am 1. Dezember in einem Referendum die Unabhängigkeitsfrage rechtsgültig beantworten - ihre Arbeit abschließen können, wird eine neue politische Ordnung zwischen Pazifik und Pregel, zwischen Kamtschatka und Königsberg entstanden sein. Russland, die Ukraine und nun auch Kasachstan haben keinen Zweifel daran gelassen, dass sie von unten her entscheiden werden, ob es noch eine dieses Namens würdige Zentrale geben wird und was sie darf. Dafür sind Vorgaben entwickelt worden, ehe noch der Putsch der Gestrigen der alten Union den tödlichen Stoss versetzt hat.

Schon am 29. Juli haben Russland und Litauen die gegenseitige Anerkennung der staatlichen Souveränität besiegelt und sich auf den Schutz der jeweiligen Minderheiten (Russen in Litauen und Litauer in Russland) geeinigt. Unter mehreren Dutzend zweiseitigen Verträgen verschiedener Republiken der ehemaligen UdSSR miteinander geht dieser zwischen dem Überriesen unter Boris Jelzin und dem kleinen Baltenland unter Vytautas Landsbergis am weitesten. Wichtig ist aber, dass schon vor dem Putsch, entgegen den zentralistischen Plänen für einen Unionsvertrag von oben, ein solches Netzwerk von Abkommen und Verträgen entstanden ist und dass die Souveränitäts- und Unabhängigkeitswelle schon damals die Arbeiten am Unionsvertrag von unten zu überholen begann.

Es besteht nun für jede Republik die Möglichkeit der freien Entscheidung, ob sie sich einem neuen Staatenbund mehr oder weniger eng anschließen will oder ganz von ihm scheidet, wie es die baltischen Staaten in diesen Tagen getan haben. Alle anderen Wahlmöglichkeiten sind mittlerweile wohl nicht mehr als historisierend Gedankenspielerei. Dabei verfolgen die einzelnen neuen Völkerrechtssubjekte durchaus verschiedene Ziele. Für Russland und die Ukraine, die beiden weitaus gewichtigsten, ist die Unabhängigkeit - auf verschiedene Weise - mit Gesellschaftsreform verbunden. Russlands gewählter Präsident hat es zudem mit beträchtlichem Verhandlungs- und Aktionsgeschick geschafft, die meisten von Nichtrussen bewohnten Teilgebiete (die bisherigen Autonomen Sowjetrepubliken) in die föderale Struktur des neuen, intentionell demokratischen und marktwirtschaftlichen Russland einzubeziehen; mit der bemerkenswerten Ausnahme Tatarstans an der mittleren Wolga.

Die Ukraine, in der die Volksfront vom Untergang der Kommunistischen Partei profitiert, kommt ihrem Ziel der Atomwaffen- und Atomenergiefreiheit näher und näher. In Kasachstan scheint dem intelligenten Präsidenten Nursultan Nasarbajew, der nicht erst seit gestern als dynamischer Reformer bekannt ist, außer der Veränderung des Wirtschaftssystems auch der Ausgleich zwischen der russischen Bevölkerungsmehrheit und der kleineren kasachischen Titularnation zu gelingen. Hingegen haben sich die Machtstrukturen in den fünf übrigen Moslem-Republiken kaum verändert; die Eliten sind dieselben wie seit Jahrzehnten. Aserbaidschan verdankt der sowjetischen Militärpräsenz die Fortexistenz der KP-Ordnung unter nationaler Flagge. Usbekistan und Tadschikistan halten nur durch massive Manipulation die islamischen und alltürkischen Massenbewegungen wie Birlik, Erch und Rastachis nieder. Turkmenien ist auf eine Weise, die Stalinisten neidisch machen könnte, von keiner Reform angekränkelt. Und in Kirgisien geht zwar vom Präsidenten Asker Akajew, nach dessen Wahl erst im Dezember die Unabhängigkeitsbewegung an Dynamik gewann, Veränderungswille aus, doch bremst der Apparat nach Kräften.

Im politischen und sozialen Unterbau ist überall die mafiöse Personalverquickung von Sippen- und Stammesboss, Staatsfunktionär und Parteivertreter noch intakt. Die mittelasiatischen Eliten streben, in gebührender Verkürzung, nach alleiniger Kontrolle über das, was die Zentrale bisher beherrscht und oktroyiert hat. Das ist der Sinn ihrer Souveränität. Sie befinden sich aber in einer wirtschaftlichen Abhängigkeit, die sie zunächst in den neuen Staatenbund hineinzwingt. Darin werden sie über kurz oder lang museal wirken. Dem Druck der Volksbewegungen werden auch sie über kurz oder lang weichen müssen. Deren Stärke aber liegt im nationalistischen, historisch und kulturell begründeten Anspruch auf Unabhängigkeit von Russland. Die diesbezügliche Änderungskündigung muss bei jedem neuen Vertragswerk mitgedacht werden. Die Partei, ohnehin in einige dreißig Strömungen zerfallen, klammert nichts mehr zusammen. Ideologisch nicht - aus einsichtigen Gründen. Apparatmäßig nicht, weil die Eliten die Partei verboten und den Besitz jeweils regional verstaatlicht haben. Das vereinfacht die Unabhängigkeit an Ort und Stelle; doch es ist die Einfachheit der Leere, in die andere Ideologien hineindrängen. Die UdSSR war ein sklerotischer Koloss. Der neue Staatenbund wird von Anfang an ein dynamischer Prozess.