Leitartikel: Die russische Revolution

Frankfurter Rundschau, 24. August 1991
Das Volk von Moskau und Leningrad hat nicht nur einen Putsch besiegt. Es hat ein neues Russland, eine neue Union geschaffen. Eben das ist entstanden, was die Putschisten um einen hohen Preis verhindern wollten. Der Zusammenbruch des Putsches hat die Partei mit in seinen Strudel gerissen und damit auch Gorbatschow, der sich von ihr nicht trennen wollte. Es mag sein, dass Jelzin mit der Suspendierung der Partei den Bogen überspannt, aber die Verbindung der durch Wahlen bekräftigten demokratischen Legitimität mit der revolutionären Bewegung bot sich an.

Seit dem vergangenen Dezember, als Schewardnadse dramatisch aus dem Außenministerium der Sowjetunion ausschied, reiften die Widersprüche bis zur Entscheidungssituation heran. Die Dynamik der Reformen hatte die Reformer der ersten Jahre überholt. Sie begann das System selbst zu revolutionieren. Umkämpft war die Verfügungsgewalt über Produktion und Handel, dargestellt im Konflikt um Markt oder Plan und die ökonomischen Sondervollmachten des Geheimdienstes. Neue, regional organisierte Machteliten rebellierten gegen die zentralistische Elite; das drückte sich in den Verträgen zwischen den einzelnen Republiken aus, aus denen ein "Unions-Vertrag von unten" zu wachsen begann.

Obwohl politisch noch nicht in großen neuen Parteien organisiert, wählte das Volk die alte Partei ab. Der Ukas des russischen Präsidenten Boris Jelzin, die kommunistische Partei von den Betrieben und Verwaltungen zu trennen, bedrohte deren soziale Machtbasis tödlich. Das stellte sich dar als Konflikt zwischen verfallender Diktatur und obsiegender Demokratie. Doch sollte man nicht übersehen, dass selbst der konservative Teil der zentralen Machtelite die bisherige Perestroika als Modernisierung mitgetragen hatte. Daher rührte Michail Gorbatschows naives Vertrauen darauf, einen mittleren Kurs steuern zu können mit Hilfe der Personen, die sich dann als Putschisten erwiesen. Seiner Personalpolitik lag nicht mangelnde Menschenkenntnis zugrunde, sondern eklatante Fehleinschätzung des revolutionären Prozesses.

Einen Mittelweg gibt es nicht mehr. Der Versuch, mit Gewalt den Prozess aufzuhalten, scheiterte wie 1917 das Unternehmen des rechtsgewirkten Generals Kornilow, der - berufen und ermutigt von der politischen Mitte - an den Petersburger Arbeitern scheiterte und durch dieses Scheitern die Entwicklung nach links erheblich beschleunigte: Der Umsturzversuch hatte dem Volk der Hauptstadt das Bewusstsein der eigenen Stärke gegeben und begünstigte Lenins und Trotzkis Griff zur Macht. In den Moskauer und Leningrader August-Tagen ist genau dies wieder geschehen - diesmal im Sinne einer beschleunigten Demokratisierung.

Freilich sind Moskau, Leningrad und die Arbeiterzentren im Ural und in Sibirien nicht die ganze Sowjetunion. Noch ist der Apparat stark in den Tiefen der Provinz. Noch hat sich die moralisch-politische Erschütterung nicht bis dorthin fortgepflanzt, von der Alexander Jakowlew, einer der ersten großen Reformer, am Donnerstag gesprochen hat. Dass aber "die Partei" geschwiegen hat, als in ihrem Namen die Panzer rollten, dass sich die tragenden Funktionäre insgesamt so abstoßend servil verhalten wie Gorbatschows alter Freund Anatoli Lukjanow, das erledigt sie auf Dauer. Es wird sich zeigen, sobald frei gewählt wird.

Um dies vorzubereiten, sind neue Strukturen nötig, "runde Tische", vorbereitende Ausschüsse. Sie müssen den Rechtsnihilismus aufheben, der sich im "Krieg der Gesetze" und der Kompetenzen zwischen Zentralen, Unterzentralen und der Basis entlädt. Noch immer hat Präsident Gorbatschow dies nicht verstanden, noch glaubt er, das falsch verwaltete Leninsche Erbe gegen den revolutionären Prozess an der Basis verteidigen und bewahren zu können und stellt sich nicht einmal dem Volk. Die neuen Aufgaben haben Jelzin und seine Berater und Verbündeten begriffen. Sie haben im eigenen Kampf eingesehen, dass eine politische Revolution über Russland und die ganze Sowjetunion geht. Sie versuchen ihr Führung zu geben. Das macht sie zu den Männern (und, in geringerer Zahl, Frauen) der Stunde. Um persönliche Tugend und romantischen Mut zur eigenen Groesse geht es nicht, so symbolhaft und begeisternd sie auch zu wirken vermögen. Die Befreiung des Volkes hat in dieser Woche begonnen, im Gleichtakt der politischen Metropolen des Landes.

Vollendet ist sie noch nicht. Weiter versucht die schwindende Zentrale zwischen den Flügeln zu schwanken. Eine neue Verfassung, die aus einem freiwillig geschlossenen Vertrag der Republiken und der Völker der gegenwärtigen Sowjetunion entsteht, muss den rechtlichen Rahmen erst schaffen. Ihn zu erkämpfen, sind die Reformer entschlossen. Ihnen gebührt, bei allen Mängeln, die sie haben mögen, alle Unterstützung.