Leitartikel: Es geht ums Ganze

Frankfurter Rundschau, 28. Juni 1991
In Jugoslawien findet ein Bürgerkrieg statt, in Brüssel eine Bürokratie und in den USA keine Weltpolitik. Die letzteren beiden Vorgänge hindern deren Akteure, wenn man ihnen diese (Tätigkeit unterstellende) Bezeichnung zuschreiben darf, die Tragweite des ersten Vorgangs zu erkennen. Den Bürokraten bleibt der europapolitische Terminplan heilig und den Washingtoner Administratoren die eigene Ahnungslosigkeit. Die verschiedenen Regierungen - und Oppositionen - europäischer Mittelstaaten fallen unterdessen der Versuchung anheim, ihr Mäntelchen auszurichten nach dieser oder jener Windstille. Daß Grundsatzfragen aufgebrochen sind - sie merken es nicht.

Für Slowenen und Kroaten, für Balten und Moldawier, denen man europäische Qualität ja nicht absprechen kann, gilt das Selbstbestimmungsrecht nicht. Selbst wenn die jeweilige Zentralmacht sie mit der Gewalt der Panzer und der Finsterkeit der schwarzen Barette auf diesen und keinen anderen Weg zwingt, haben sie das Heiligste zu respektieren: die Staatsgrenze. USA und EG bekennen sich in schöner Ehrlichkeit dazu, dem einheitlichen Jugoslawien ebenso die Treue zu halten wie der einheitlichen Sowjetunion. Sie werden es noch tun, wenn beide zu fiktiven Größen geworden sind.

Der Grundsatz von der Unverletzlichkeit der Grenzen ist gewiß ehrenwert und bedeutend. Er war auch friedenswirksam. 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei war die Nichtintervention, die Respektierung der Grenzen "von Jalta", der 1945 festgelegten Einfluß- und Machtsphären, die Voraussetzung dafür, daß der äußere Frieden in Europa erhalten blieb. Der Preis war, daß den Ostdeutschen, den Ungarn, den Tschechen und den Slowaken die erkämpfte Freiheit wieder geraubt werden konnte. Die Schauseite der Jalta-Ordnung hieß Frieden, die Kehrseite: Breschnew-Doktrin.

Nur besteht die Jalta-Ordnung kraft des Votums der Völker nicht mehr. Polen, Tschechen, Slowaken, Ungarn und Ostdeutsche, Bulgaren und Rumänen haben, in abgestufter Vollkommenheit, ihre gesellschaftspolitische Freiheit erkämpft und erwählt. Sie haben die Kehrseite von Jalta überwunden und zahlen den Preis der wirtschaftlichen Unordnung, um die politische Sehnsucht zu erfüllen. Sie mögen dies nicht in den Konsequenzen geahnt oder bedacht oder den Preis für günstig erachtet haben; der Legitimität des Vorgehens tut das keinen Abbruch.

Slowenien und Kroatien, die baltischen Republiken und Georgien, Armenien und Moldawien haben den ihnen übergeordneten, sie jetzt erdrückenden Zentralmächten ebenfalls den Vorzug der Demokratie voraus. Ihre parlamentarischen Regierungen sind aus recht unbehinderten, freien Mehrparteien-Wahlen hervorgegangen. Musterfälle demokratischer Toleranz mögen sie alle nicht sein; auch ihre Vorgänger, die in der jüngeren Geschichte einmal existiert haben, waren in dieser Hinsicht nicht gerade Schweizer Kantone. Die Wahlvorgänge aber hatten die Qualität, Legitimität zu stiften; die Aussage der Wählenden war eindeutig.

Die von den Wählenden abgelehnten zentralen Systeme haben diesen Vorzug nicht. Jugoslawiens Zentralparlament ist der Rest eines Einparteisystems. Die Mehrheiten des Obersten Sowjets stammen aus einem Prozeß, der teils Ernennung von Vertretern verfaßter Eliten und teils manipulative Kandidatenauswahl, gelenkte Halb-Wahl war; die Fälle Sacharow, Jelzin und andere sind Fälle ersten Selbstbehauptungswillens des Volkes gegen die Manipulatoren. Das Votum der Eurokraten und der US-Administration sowie der meisten westeuropäischen Regierungen für Jugoslawien, für die sowjetische Zentralmacht enthält daher ein unausgesprochenes Votum gegen Demokratie und Selbstbestimmung.

Es ist noch ärger. Die West-Demokratien haben eindeutig plädiert, für den einheitlichen jugoslawischen Staat, für die alt-neue Sowjetunion. "Gorbatschow helfen" ist ein platter Anspruch. Präsident und Parteichef Gorbatschow hat den Prozeß eingeleitet, der den Staat und die Wirtschaft modernisieren sollte; er sollte aber zugleich, Quadratur des Kreises1 die Gesellschaft bewahren. Nicht viel anders im Belgrader Fall. Nur ist jener klarer. Der demokratische Prozeß hat Serbien nicht erfaßt. Serbische Nationalisten, gestützt auf die nur bei ihnen noch regierende Apparat-Partei, haben die Autonomie des Kosovo und der Wojwodina zerstört; sie schicken sich nun an, im Namen der Zentralmacht den demokratischen Entwicklungsprozeß in Slowenien, Kroatien und bald Bosnien mit denselben Mitteln zu planieren, deren sich zuletzt die Breschnewsche UdSSR in Prag 1968 bedient hat.

Sie treiben damit die Demokraten auf die nationalistische Route. Da Demokratie erst erfahren werden muß, Nationalismus aber gefühlt wird, also eingängiger ist, bestand die Gefahr ohnehin. Sie wird durch die bewaffnete Intervention nun zur kristallenen Gewißheit Der Westen treibt mit, indem er für Belgrad optiert.

Das demokratische Prinzip erweist sich so als ein opportunistisches, sobald es die Westzimmer im europäischen Haus verlässt. Das wird zurückwirken. Was Westeuropa und die USA bisher attraktiv gemacht hat, war ja, neben dem vorherrschenden Wohlstand, die Demokratie. Das Prinzip Europa, die moderne Überwindung des Nationalismus, verheddert sich, je länger, desto mehr, in Bürokratismen; attraktiv ist allenfalls die Idee, nicht die Wirklichkeit Verrät aber Westeuropa den demokratischen Grundsatz, mißachtet es das Selbstbestimmungsrecht, treibt es die dafür mit dem Wahlzettel Kämpfenden in den Nationalismus zurück; dann kann es ihm selbst bald erliegen. Es geht also nicht allein um Slowenen und die anderen. Es geht ums Ganze.