Leitartikel: Nach dem Kommunismus

Frankfurter Rundschau, 31. Juli 1989
Ein Gespenst geht um im östlichen Europa - das Gespenst des Nachkommunismus. Von Stalins alter Ordnung, die diesen Namen trug, ist nicht mehr viel geblieben; was aber die neue Ordnung sein wird, ist nur zu erahnen. Die Anzeichen genügen immerhin schon, die herrschende Kaste in Bedrängnis zu bringen. Ihre bisherige soziale Existenz steht auf dem Spiel.

Die Ursprünge liegen sieben Jahrzehnte zurück. In Rußland war das alte System zusammengebrochen, jedoch die erstrebte proletarische Klassenherrschaft nicht durchzusetzen - mangels einer ausreichend starken Arbeiterklasse. Deren Stelle vertraten die Partei und der bürokratische Apparat, die miteinander verschmolzen. Sie machten Stalin zu dem, was er wurde, waren aber gleichzeitig auch Stalins Geschöpf. Eine Übergangsform sollte das sein; sie wurde dauerhaft wie manches Provisorium. Die neue Elite überstand die Modernisierungsversuche der Nachfolger, sie verfestigte sich und wurde mächtiger. Aber sie erstarrte auch, und sie begann die von ihr beherrschte Gesellschaft zu lähmen.

Die unkontrollierte Macht dieser Klasse ist das Problem. Die Lösungsversuche haben zwei grundsätzlich verschiedene Ansätze: die "selbstreinigende" Reform oder das Aufkommen einer parallelen, konkurrierenden Machtelite. In Polen ist eine solche in der "Solidarnosc" aus der Arbeiterbewegung der achtziger Jahre gewachsen; dazu gehörte als Sonderbedingung, daß die einflußreiche Kirche sie unter ihren Schutz nahm, so gut sie es konnte, und daß keine auswärtige Macht zur Intervention imstande war. Das Kriegsrechts-Unternehmen der alten Elite war letztlich ein Rückzugsgefecht.

In Ungarn bildete sich die reformerische Kraft in der herrschenden Partei selbst heraus; sie zog die unzufriedenen Intellektuellen zu sich herüber und hat einen Prozeß in Gang gesetzt, an dem zwei Jahrzehnte zuvor noch die Prager Reformer durch die Intervention der "Bruderstaaten" gewaltsam gehindert wurden. Die Rahmenbedingungen werden immer noch durch die Vormacht des "Lagers" definiert, aber es wiegt schwerer denn je, daß die überwältigende Mehrheit der Ungarn - wie der Polen - die Veränderung unterstützt und daß sich neue Strukturen des gesellschaftlichen Interessenabgleichs einwurzeln.

Dies ist auch für die Vormacht, die Sowjetunion, die entscheidende Frage. Die herrschende Nomenklatura hat die Notwendigkeit einer System-Modernisierung wohl erkannt, hält indes zugleich an ihrer Herrschaftsposition fest, die ja im russischen Kernland nicht Fremdherrschaft, nicht geborgte Macht, nicht Ergebnis militärischer Eroberung ist. Generalsekretär Michail Gorbatschow ist von ihr auf seinen Platz gesetzt worden, weil er durch Modernisierung das Gesamtinteresse der Machtelite wahren sollte. Zunächst hatte er auch bloß uskorenije, Beschleunigung der wirtschaftlichen Entwicklung, im Programm; perestrojka, Umbau, ist daraus nach dem Reifen der Erkenntnis geworden, daß die alte Ordnung sich nicht ohne Runderneuerung wieder in Bewegung setzen ließ.

Auch das war Aktion "von oben", von der Spitze der Machtelite aus; also ein begrenzter Prozeß. Wenn Gorbatschow kürzlich als wichtigste Aufgabe die Zufuhr frischen Blutes in die Partei bezeichnete, so entsprach das noch dieser Selbsteinschätzung. Die besonderen Entwicklungen im Baltikum, in Transkaukasien und in Mittelasien konnten noch als Regionalismus oder als Wiederaufleben der nationalen Eigenständigkeit nichtrussischer Sowjetvölker verstanden werden. Die Bergarbeiterstreiks haben nun wohl auch den naiveren Betrachtern vor Augen geführt, daß eine umfassende soziale Umwandlung nötig ist.

Die Reformen haben unabhängig vom Willen dessen, der sie in Bewegung gesetzt hat, ihre eigene Dynamik. Daß der Mittelbau der Nomenklatura die bremsende träge Masse ist, wissen ja nicht nur "die da oben", die ihre Umbau-Politik gelegentlich als Revolution darstellen; das wissen auch die unterprivilegierten Arbeiter, Bauern und Angestellten, und sie klagen durch Massenaktionen die Revolution ein.

Der Rahmen einer selbstreinigenden Reform aus dem Inneren der Machtelite heraus ist damit gesprengt. Deshalb kann auf Dauer die Entscheidungsgewalt nicht monopolisiert bleiben - weder in den Händen einer auffrischungsbedürftigen einzigen Partei noch in denen eines dynamischen Generalsekretärs-Präsidenten. Jede gesellschaftliche Kraft von einiger Bedeutung braucht ihre eigene, selbstgewählte Vertretung. Die Amtsgewerkschaften können diese Rolle in der Sowjetgesellschaft so wenig übernehmen wie die offiziellen polnischen dort vor neun Jahren. Spontan gewählte Streikkomitees sind schon da; sie können sich eine eigenständige Rolle als Verhandlungspartner der Machtelite erkämpfen - und sie müssen es auch, wenn sich wirklich etwas ändern soll.

Am Fehlen einer basisbestimmten, zu taktischem wie zu strategischem Handeln fähigen Führungsinstitution ist die chinesische Volksbewegung dieses Frühjahrs unter anderem gescheitert. Freilich erwiesen sich dort die informellen Machtstrukturen der alten Garde als unvermutet stark. An einen vergleichbaren Punkt kann jede reformatorische Bewegung auch im sowjet-sozialistischen System gelangen - nämlich dann, wenn es den Inhabern der realen Macht "nun aber reicht". Wenn im Verlauf des gesellschaftlichen Umbaus nicht Gegen-Strukturen entstehen, die die Entwicklung gewaltlos, aber beschleunigt lenken können, besteht die Gefahr des Umschlagens in den Voluntarismus einzelner Führer oder Komitees weiter. Und selbst wenn die umfassende Reform von oben gelingen sollte, erläge der Nachkommunismus dieser Gefahr noch; denn voluntaristische Lektionen lernen die Mächtigen besonders leicht.