Leitartikel: Pekinger Hexenjagd

Frankfurter Rundschau, 31. Juli 1989
Wer über die Geschichte bestimmt, beherrscht die Zukunft, behauptet eine alte chinesische Weisheit. Die Kriegsrechtsverwalter der chinesischen Geschichte halten sich daran. Sie nutzen das modernste Medium, das derzeit verfügbar ist, um eine Milliarde Menschen gleichzuschalten, Abweichler zu hetzen und zu jagen, das Volk zur Hexenjagd zu treiben.

Die Geschichte haben sie schon zum Herrschaftsinstrument umfunktioniert. Das zentrale Fernsehen verbreitet in kulturrevolutionärer Monotonie und dennoch mit der dem Medium eigenen suggestiven Kraft Bilder von Widerstandshandlungen nach dem Pekinger Blutsonntag und herzige Szenen, in denen alte Frauen jungen Soldaten Tee, Apfel und Reis darbieten. Es zeigt ausgebrannte Wracks von Militärfahrzeugen und den unvergleichlichen Pekinger Sonnenschein über dem selbstverständlich unbefleckten Tian'anmen-Platz. Aber die sieben Wochen friedliche Volksbewegung, das langsame Reifen demokratischer Ideen, ihre Spontaneität und ihre Selbstzweifel, die in Worten kaum faßbare Mischung von Woodstock und Weltgeschichte, das "Vorwärtsträumen" einer ganzen Generation, eines ganzen Volkes, von Harbin bis Kanton, von Schanghai bis Mittelasien - das hat es nie gegeben. Dantes Fluch ("Ihr seid das Niegewesen und das Niegedacht") erfüllt sich auf den Mattscheiben und in den Lautsprechern des sogenannten Zentralen Volkssenders, unter strenger Aufsicht der Bewaffneten.

Für langgediente Bürger der Femsehwelt ist diese Dialektik zweier Wirklichkeiten nicht neu. Daß die elektronische Realität in PAL und in SECAM mit dem Leben außerhalb der funkenden Anstalten oft wenig zu tun hat, weiß jeder, der ein bißchen mit der Funktionsweise der Fernbedienung vertraut ist Selbst wer mit dem Denver-Clan fiebert, verliert nicht immer aus dem Kopf, daß der scheinreal ist; aber selbst wenn er den Yang-Shangkun-Clan mit seiner 27. Armee nur vom Bildschirm kennt, kann er sich doch dem Bewußtsein nicht entziehen, daß es dort eine unmenschliche Wirklichkeit gibt.

Dermaßen geübte Televisions-Verbraucher sind die meisten Chinesen nicht, wie sie sich überhaupt an den amtlichen, also kraft der Machtverhältnisse unbezweifelbaren Verlautbarungscharakter ihrer drei Programme (hinter denen ein einziges Parteiprogramm steht) gewöhnt haben. Das seit dem Reform-Boom flächen-deckend gewordene Medium ist noch zu neu. Es projiziert seine Bilder noch auf eine ziemlich weiße Fläche, auf der man, wie Mao wußte, die schönsten Kalligraphien malen kann.

Dabei ruft es zwei sehr neue Effekte hervor. Es schüchtert ein durch den Grusel einer weiteren Wirklichkeit. Die heißt: Verhör und Folter. Da werden in "Fliegerhaltung", die Arme hinter dem Rumpf nach oben gebogen, den Kopf bis Bauchnabelhöhe gesenkt, angebliche Aufrührer vorgeführt; da werden mit vorgehaltener Pistole Personen verhört, denen man die Blutspuren vorheriger Verhöre noch ansieht; demnächst werden gewiß Einzel-und Massenhinrichtungen sogenannter Konterrevolutionäre zu sehen sein. Das Fernsehen zeigt die Instrumente. Jeder weiß, was ihm blühen kann. Nachdem man dem Volk das Gedächtnis genommen und seine Geschichte umgefälscht hat, treibt man ihm den Mut aus. Es soll die Mächtigen angstvoll wahrnehmen. Das Wort Terror gilt da zum Nennwert.

Der zweite, wahrhaft erschreckende Aspekt ist die weltweit erstmalige Verwendung des Fernsehens als politischer Fahndungshelfer. Die Steckbriefe der 21 Studentenführer kommen in jedes Dorf und werden von jedem wahrgenommen; denn der soziale Druck, die immerwährende Anwesenheitskontrolle bewirkt, daß sich keiner dem Aufruf zur kollektiven Mitfahndung entziehen kann. Das Recht abzuschalten wird zum kostbaren, in China leider nicht erhältlichen Gut.

Die Verwendung gestohlener TV-Aufnahmen eines Kamerateams aus den USA zeigt, wie wenig Bedenken die Diktatoren plagen. Rückwirkend wird indes auch jeder einzelne Auftritt in der Nähe laufender Kameras zum Fahndungs- und Beweismaterial, der zu einer Zeit zustande kam, als das offene Wort durchaus nicht verboten war.

Die permanenten Aufrufe zur Denunziation, zur Arbeitserleichterung mit den passenden Telefonnummern garniert, heben die professionelle Fernsehherrschaft schließlich auf eine weitere Ebene. Der soziale Druck, die Kontrolle durch die danwei (Einheit), in der man arbeitet, lebt und wohnt, ist die notwendige Ergänzung. Einen Verdächtigen zu kennen und nicht zu melden ist lebensgefährlich; doch schon das Ferngespräch vom öffentlichen - und offen dastehenden - Telefon in der nächsten Gasse macht den Anrufenden zum Objekt des Mißtrauens: Hat er jemanden denunziert, und wenn ja, wen? Orwells Televisor, der alles überwachte, war ein nur technisches Gerät im Dienst der totalen Macht. Die Pekinger Methode zwingt jeden Bürger letztlich in die Mittäter-Rolle. Die Macht, lehrte Mao, kommt aus den Gewehrläufen; schlimm genug, wie seit dem Pekinger Blutsonntag bekannt ist. Die schlimmere Macht, die außer den Körpern der Toten auch den Geist der Überlebenden vernichtet, kommt aus der Mattscheibe, gepaart mit dumpfem kollektivistischem Druck.