Leitartikel: Achtzehn Tage danach

Frankfurter Rundschau, 16. Mai 1986
Michail Gorbatschow hat achtzehn Tage gebraucht, um sich nach dem schweren Unfall im Atomkraftwerk Tschernobyl an die Sowjetbürger zu wenden, und er mag einige von ihnen beruhigt haben. Aber der Fall Tschernobyl ist noch längst nicht ausgestanden. Ein Schicksalsschlag war dies nämlich ebensowenig wie die Havarie von Harrisburg vor sieben Jahren oder die Explosion der US-Raumfähre; es war eine schreckliche Illustration dessen, was sich hinter dem harmlosen Begriff "Restrisiko" verbirgt, ein technisches Versagen, zu dem sich möglicherweise menschliches Versagen gesellte.

Da wäre wenigstens eine Spur von Nachdenken zu erwarten darüber, wie - und ob - es mit der Atomenergiewirtschaft in der Sowjetunion weitergehen soll; statt dessen kamen Durchhalteparolen. Niemand hat wohl vom sowjetischen Generalsekretär erwartet, daß er auf "grüne" Antworten käme; es gibt ja, außer hier und da in Intellektuellenkreisen, dort nicht das geringste Problembewußtsein, geschweige denn die öffentliche Meinung, die auch nur umfassende Aufklärung erzwingen könnte.

Daran nämlich fehlt es auch. Gorbatschow hat über die unmittelbaren Folgen der Katastrophe gesprochen, nicht aber über die Strahlenbelastung, die in der Ukraine und in Bjelorußland geschehen ist, nicht über die ersten Fälle von - meist tödlicher - Strahlenkrankheit, die jetzt aus Gomel gemeldet werden. Er hat die Sowjetbürger nicht mit einem Wort auf das vorbereitet, was noch kommen wird; darin handelte er nicht besser als Staats- und Regierungschefs im Westen, die sich, wie Helmut Kohl, die Fortsetzung des Atomenergie-Kurses auch noch parlamentarisch bestätigen lassen, als sei es das höchste Rechtsgut, die eigene parlamentarische Mehrheit jederzeit mobilisieren zu können, als gelte es nicht, Gesundheitsschäden und genetische Veränderungen von den Völkern abzuwenden.

Gorbatschow hätte besondere Veranlassung gehabt, auch darüber zu sprechen; Tschernobyl liegt schließlich in der Sowjetunion, und zudem hatte er Offenheit in allen Fragen versprochen. Indem da aber Fortschritts-Optimismus verordnet wird, ist jede fachliche Kritik dazu verdammt, dem Makel der Dissidenz an sich zu haben; auch parteiamtlicher Optimismus wird so zu einem Mittel der Disziplinierung.

Dieses Verhalten leitet reichlich Wasser auf die Mühlen der Skeptiker, die schon lange "vor Tschernobyl" den Zusagen, es werde künftig Inspektionen und Kontrollen in heiklen Rüstungsangelegenheiten geben, nicht recht trauen wollten. Unterstellen wir dem Generalsekretär, daß er es in der Abrüstungsfrage absolut ehrlich und ernst meint, so müssen wir auch konstatieren, daß er durch die Halb-Offenheit vom Mittwoch wenigstens auch halbes Mißtrauen erzeugt.

Ob die Sowjetunion bis zum Jahrestag von Hiroshima im August tatsächlich eine Atomwaffen-Testpause einhält, läßt sich verifizieren. Das ist nicht das Problem; Atomwaffenversuche lassen sich nicht geheimhalten. Zweifelhaft ist, was danach geschieht, ob nämlich atomare Sprengköpfe wirklich vernichtet oder bloß an andere Orte verlegt werden; solange aber Zweifel bleiben, können die Aufrüster im Westen noch immer das große Wort führen, ohne daß ihnen anders zu antworten ist als mit dem Hinweis auf das Vertrauen, daß man nun einmal haben müsse.

Verhandlungen, und zwar dringliche, über sofortige Einstellung des atomaren Wettrüstens und über den sofortigen Beginn der atomaren Abrüstung bleiben dennoch geboten. Da wird auch über die Kontrollen zu verhandeln sein, die sich als noch notwendiger denn je zuvor erwiesen haben. Die anderen Atomwaffenmächte müssen Gorbatschow beim Wort nehmen, besonders die beiden, die jüngst in Muroroa und in Nevada - getestet haben. Sie laden sonst einen erheblichen Teil der Verantwortung für weiteres Wettrüsten auf sich.

Von dem, was auch ein nur "begrenzter" Atomkrieg für die gesamte Menschheit bedeuten würde, gibt Tschernobyl eine kleine Ahnung. Radioaktive Strahlung in ungeheurem Ausmaß würde Millionen sofort töten, Hunderte Millionen mit Krebstod genetischer Vernichtung und unvorstellbaren Formen des Siechtums bedrohen. Daher muß nicht nur der Ausstieg aus dem atomaren Rüsten auf die Tagesordnung; daher muß der Ausstieg aus der Atomenergiewirtschaft, deren Restrisiko immer wieder Tschernobyl heißen kann, auf der Tagesordnung bleiben.

Dies ist freilich nicht so einfach, wie es sich manche - in Anlehnung an die sowjetische Unfallbewältigungstechnik - vorstellen; es reicht nicht, die Schalthebel auf Null zu stellen und den Rest mit Beton meterhoch zuzuschütten. Das Ausstiegs-Szenario muß geschrieben werden, und dies ist in der Tat das sofortige Erfordernis der Tagespolitik, mag auch Gorbatschow - und die Atomenergiewirtschaft in anderen Breiten - vorderhand noch das unbeirrte Weitermarschieren verkünden. Tschernobyl war ein Grenzfall; wer eine Politik betreibt, die sich dieser Grenze wieder und wieder nähert, handelt zynisch und verantwortungslos.