Leitartikel: Der Mann der Machtelite

Frankfurter Rundschau, 5. Januar 1976
Eilfertige Beobachter zerlegen schon das Fell des Bären, aber noch haben sie Leonid Iljitsch Breschnew nicht zur Strecke gebracht, noch ist er die stärkste Figur in der sowjetischen Innenpolitik, und noch bestimmt er die Linie der Sowjetunion nach außen. Er ist - wie in den vergangenen Jahren - der erste unter Gleichen; und mögen auch einige Mitglieder. der obersten Führung etwas gleicher geworden sein, an der Rangfolge hat sich nichts geändert. Der beinahe siebzigjährige Parteichef tritt etwas kürzer als zu den Zeiten, da seine Dynamik und sein eigenwilliger Charme auch kritische Betrachter mitgerissen haben - aber er ist keineswegs machtlos geworden.

Und doch schwingt mehr Spannung als sonst mit, wenn eingeweihte Beobachter über den bevorstehenden 25. Parteitag reden. Je näher der Beobachter dem Schwerezentrum der Sowjetmacht steht, je enger er sich mit Breschnews Entspannungs- und Aufbaulinie identifiziert, desto mehr scheint er auf das wichtigste innenpolitische Moskauer Ereignis schon jetzt zu starren. Die Generallinie steht zur Debatte.

Breschnews Konzept war gewagt, aber in sich logisch. Innenpolitische Reformen waren nötig, und sie bedurften nach der Hektik der Chruschtschow-Jahre eher des planerischen als des zornig reagierenden, sprunghaften Temperaments; sie konnten nur der neuen Technokratie zugute kommen, und ebendiese war in Leonid Iljitsch Breschnew verkörpert. Diese neue Elite - manche haben sie als Sonderkaste innerhalb einer neuen bürokratischen. Herrscherklasse zu definieren versucht - brauchte nichts dringender als innenpolitische Ruhe, wollte sie ihr Programm, ihr eigenes Interesse und ihre selbstgewählte Rolle ("Führer des ganzen Volkes") durchhalten.

Sie brauchte die Intelligenz; ihr gab sie, ohne an ideologischer Wachsamkeit nachzulassen, etwas mehr Spielraum. Sie brauchte die Arbeiterklasse, die rasch gewachsen ist und noch rascher technische Qualifikation, Produktionserfahrung und damit ökonomisches Selbstbewußtsein gewonnen hat; ihr gewährte sie materielle Vergünstigungen. Sie mußte sohließlich die jahrhundertealte Kluft zwischen Land und Stadt zu schließen versuchen; deshalb versuchte sie sich an neuen Kolchos-Statuten, an modernen Agrikultur-Techniken und gab am Ende den Bauern, was ihnen seit der Befreiung aus der Leibeigenschaft (1861) zustand: Freizügigkeit und Pässe.

Aus eigener Kraft allein konnte die Sowjetwirtschaft allerdings nicht leisten, was da von ihr verlangt wurde. Kredite und auswärtige Technologie mußten ins Land; sie waren nur zu haben, wenn die Führung das Verhältnis zu den westlichen Industrienationen entscheidend verbesserte. Entspannungspolitik ist zu einem großen Teil innenpolitisch motiviert. Sie hatte nebenbei den Vorzug, daß die drückend gewordenen Rüstungslasten etwas erleichtert werden konnten.

Dennoch war an ideologische Aufweichung nicht zu denken. Sobald es Herausforderungen gab, ob aus dem Zirkel derer, die dann zu Dissidenten wurden, oder aus der Peripherie, kannte gerade der Modernisierer Breschnew keine Nachsicht. Ein Ausbruch nationalistisch-kommunistischer Regungen in einem verbündeten Land durfte gleichfalls nicht sein, zumal es ja einige Schwierigkeiten mit den nationalen Minderheiten in der Sowjetunion selbst gab. Die Breschnew-Doktrin, die Prager Invasion von 1968 und die vor allem ideologische Unversöhnlichkeit den Chinesen gegen über gehören zum Kleingedruckten in den Geschäftsbedingungen der Reform- und Entspannungspolitik.

Anderthalb Fünfjahrpläne lang hatte Breschnew mit diesem Konzept Erfolg. In den Schlagworten SALT und MBFR, Lebensstandard und Freizügigkeit ließ sich das messen, auf den letzten beiden Gebieten weniger als auf den ersten, insgesamt vielleicht zuwenig, aber es ist doch meßbar vorangegangen. Am Ende des Breschnewschen Aufbaujahrzehnts aber ist nun Krisenhaftes da. Die westeuropäischen Ostpolitiken - man kann sie nur im Plural nennen - und die globale Einigung mit den Amerikanern sind sicher hinter den Moskauer Erwartungen zurückgeblieben. Kredite von draußen - abgesehen von der permanenten Wirtschaftsfinanzierung durch das Preis- und Austauschsystem im östlichen Wirtschaftsblock, bei dem die kleineren Partner draufzahlen müssen - kamen nicht im erhofften Umfang herein, und eine Autofabrik in Togliattigrad macht noch keine Vollmotorisierung. Die Verkehrswege und die Landwirtschaft blieben anfällig, das Wachstum - die UdSSR hat es noch immer bitter nötig - knickte zusammen, der nächste Fünfjahrplan wird sehr bescheiden.

Noch sind nämlich die Planer im Tonnendenken und in der Neuland-Ideologie befangen, noch haben sie nicht verstanden, was Qualität und was Intensivnutzung eigentlich bedeuten. Bürokratische Befehlsstränge erdrosseln Initiativen, die durch materielle Anreize doch eben erst herausgelockt worden sind. Und wie zu den Zeiten der Neuen Wirtschaftspolitik vor fünf Jahrzehnten gibt es wieder Wirtschaftsgewinnler und Leute, die manchmal erstaunlichen Reichtum angehäuft haben.

Man wird dem Generalsekretär diese ungewollten Auswirkungen seiner Politik vorhalten. Kaum einer wird ihn des Neokapitalismus anklagen, er sei denn Chinese; aber die Frage, ob die Vision des letzten Jahrzehnts aufgegangen sei, muß Leonid Iljitsch Breschnew doch beantworten. Es ist sein Glück, daß er seinen Kritikern - wie dem Ukrainer Schelest oder dem in allen Sätteln gerechten Schelepin - die Basis noch entziehen konnte, daß er ein trotz allem an der Zukunft orientiertes Konzept hat und die "stalinistische" Gegenfraktion ihre Munition aus den Arsenalen der Vergangenheit bezieht. Und wo denn nach vorn geträumt wird, wie es Lenin einmal verlangt hat, wo an neue Gesellschaftsformationen oder an Gleichheit oder an Freizügigkeit, kurz an die "lichte Zukunft", gedacht wird, da geschieht es außerhalb des zulässigen Meinungsspektrums der Partei, und das ist schon keine läßliche Sünde mehr.

Breschnew mag müde sein, er mag sich mit dem Gedanken vertraut machen, daß es auch ohne ihn gehen muß. Ein Machtwechsel steht irgendwann bevor. Doch wer immer folgt, kann nichts anderes vertreten als die Breschnewsche Machtelite der Technokraten. Ihr Interesse besteht weiter, und viel Änderungen sind kaum möglich. Nicht daß ein Kurswechsel ausgeschlossen wäre; aber das Steuer ist doch auch blockiert. Allzuweit herumdrehen kann es keiner, weder Breschnew noch ein Nachfolger, wie immer er heißen mag. Gerade in der Sowjetunion braucht der Wandel Weile.