Leitartikel: Vietnam und die Moral

Frankfurter Rundschau, 29. Dezember 1972
Eine Sportpalastrede in Washington oder Key Biscayne hat es nicht gegeben. Den totalen Krieg gegen Nordvietnam läßt Präsident Richard Nixon gleichwohl führen. Die Bombenangriffe gegen Hanoi und die anderen Städte und Dörfer am Roten Fluß sind vernichtender als die auf Dresden, Hamburg, London oder Coventry, und sie treffen mehr noch als die Terrorangriffe der Jahre zwischen 1939 und 1945 die Zivilbevölkerung.

Im Ersten Weltkrieg waren unter den Todesopfern zwei Prozent Zivilisten, im Zweiten Weltkrieg waren 48 Prozent der Opfer Unbeteiligte, in Vietnam sind schon 90 Prozent der Kriegstoten Frauen, Kinder und Alte. Aber da wird kein Protest mehr erhoben, da schweigen namentlich die Verbündeten der USA, da sieht die westliche Welt zu, wie ihre Vormacht ihre eigenen moralischen Grundsätze in Trümmer legt und hemmungslos zerstört und vernichtet.

Sinn hat der amerikanische Bombenterror nicht. Militärisch bewirkt er nichts, und ob er die politischen Folgen überhaupt haben kann, die Washington sich erhofft, ist mehr als fraglich. Man kann nicht umhin, die Reaktion der nordvietnamesischen Führung auf den uneingeschränkten Vernichtungskrieg aus der Luft als ruhig, gemessen, würdevoll zu bezeichnen; Hanois Führungsmannschaft wird mit den USA nicht mehr verhandeln, solange sie ihren schmutzigen Krieg fortsetzen. Nicht daß die Führer der Lao-Dong-Partei Apostel der reinen Moral wären, nicht daß sie auf Terror verzichtet hätten; aber selbst die erbittertste Ablehnung des vietnamesischen Kommunismus kann Völkermord nicht rechtfertigen.

Der Preis des Krieges

Die USA sind noch in den Zweiten Weltkrieg eingetreten, um gegen die faschistische Diktatur in Mitteleuropa der Freiheit und der Demokratie beizustehen, um ein System des absoluten Unrechts zu zerschlagen. Aber sie haben das nicht um den Preis getan, der ihnen heute in Vietnam selbstverständlich zu sein scheint. Dort begehen sie Taten, die sich mit denen von Oradour und Auschwitz, von Workuta und Coventry vergleichen lassen. Sie geraten mit jedem Tag tiefer in den Sumpf des Verbrechens. Sie haben ihre eigenen Ideale verraten, sie verraten sie mit jedem Tag weiter. Die Führung mag noch an den Zweck glauben, Südvietnam die Selbstbestimmung zu retten; die Mittel sind gleichwohl kriminell.

Napalmbomben sind mehr als nur eine Weiterentwicklung der Phosphorbomben, die vor 30 Jahren Städte in Europa vernichtet haben. Sie treffen die Zivilbevölkerung in einem Maße, daß die Vorstellungskraft selbst nach den Erfahrungen des letzten europäischen Krieges versagt. Splitterbomben, die wieder nur Unbewaffnete und Ungeschützte treffen und gezielt gegen sie eingesetzt werden, wirken verheerender als die Dumdum-Geschosse, die von allen zivilisierten Nationen geächtet sind. Und bei der Zielsicherheit, auf die sich die amerikanischen Militärs so viel zugute halten, sind Treffer auf Schulen und Krankenhäuser auch keine Zufälle mehr.

Das Argument, Hanoi müsse nur kapitulieren, und sofort werde der übelste Vernichtungsfeldzug der jüngeren Geschichte eingestellt, ist nichts als Demagogie. Den Willen, das Gemetzel politisch zu beenden, hat Nordvietnam gezeigt. Es hat verhandelt, es hat ein Übereinkommen erzielt, dabei möglicherweise die amerikanische Seite am Verhandlungstisch hier und da aufs Kreuz gelegt, einiges auch festgeschrieben, was es mit militärischer Gewalt herausgeholt hatte; aber dann waren es doch die USA, die noch 126 "Korrekturen" anbringen wollten, dann hat doch die Regierung Nixon nach dem demagogischen Erguß, der Friede stehe vor der Tür, von sich aus das Ausgehandelte liquidiert und von sich aus den Terror aus der Luft aufgenommen.

Dabei hat sie sich der Glaubwürdigkeit begeben, die Vorbedingung für alles Weitere wäre. Mit den Bombenlasten hat der amerikanische Militärapparat die eigenen moralischen Grundsätze abgeworfen, Freiheit zur Freiheit der Vernichtung verfälscht und Demokratie zur Ausrede für Selbstherrlichkeit degradiert. Wohl, die USA sind intern noch immer ein demokratischer Staat, sie haben für sich viele Träume verwirklicht, sie bieten ihren Bürgern ein fast unvergleichbares Maß an Freizügigkeit und - wie es in ihrer eigenen Verfassung heißt - Recht auf Glück. Aber daß sie in Vietnam für diese Ideale einstünden, können nur noch Weltfremde annehmen; da widerlegt jeder Tag grausam den amerikanischen Traum.

Zeit für Proteste

Und die Weltöffentlichkeit schweigt. Olof Palme ist leider die einzige Ausnahme; der schwedische Regierungschef hat kaum ein Echo ausgelöst. Viele, die mit der Verurteilung von sowjetischer Gewalt (1953 in der DDR, 1956 in Ungarn, 1968 in der CSSR) oder mit gerechtem Zorn über den Terror der Roten Garden in China 1966 so rasch bei der Hand waren, lassen sich jetzt nicht vernehmen; sei es aus Bündnistreue, sei es, daß ihr Begriff von Gewalt nicht durchdacht ist. Sie ziehen gegen Gewalt zu Felde, wenn es für sie recht ungefährlich ist; so sicher der Terror gewisser palästinensischer Gruppen weltweite Proteste hervorruft, so sicher hüllen sich die Etablierten in - hoffentlich auch ein bißchen von Scham diktiertes - Schweigen angesichts der Untaten in Indochina.

Es schweigt auch die Bundesregierung; ihre sanft wertenden Erklärungen sind der nordvietnamesischen Führung auf den uneingeschränkten Vernichtungskrieg aus der Luft als ruhig, gemessen, würdevoll zu bezeichnen; Hanois Führungsmannschaft wird mit den USA nicht mehr verhandeln, solange sie ihren schmutzigen Krieg fortsetzen. Nicht daß die Führer der Lao-Dong-Partei Apostel der reinen Moral wären, nicht daß sie auf Terror verzichtet hätten; aber selbst die erbittertste Ablehnung des vietnamesischen Kommunismus kann Völkermord nicht rechtfertigen.

Der Preis des Krieges

Die USA sind noch in den Zweiten Weltkrieg eingetreten, um gegen die faschistische Diktatur in Mitteleuropa der Freiheit und der Demokratie beizustehen, um ein System des absoluten Unrechts zu zerschlagen. Aber sie haben das nicht um den Preis getan, der ihnen heute in Vietnam selbstverständlich zu sein scheint. Dort begehen sie Taten, die sich mit denen von Oradour und Auschwitz, von Workuta und Coventry vergleichen lassen. Sie geraten mit jedem Tag tiefer in den Sumpf des Verbrechens. Sie haben ihre eigenen Ideale verraten, sie verraten sie mit jedem Tag weiter. Die Führung mag noch an den Zweck glauben, Südvietnam, die Selbstbestimmung zu retten: die Mittel sind gleichwohl kriminell.

Napalmbomben sind mehr, als nur ein Weiterentwicklung der Phosphorbomben, die vor 30 Jahren Städte in Europa vernichtet haben. Sie treffen die Zivilbevölkerung in einem Maße, daß die Vorstellungskraft selbst nach den Erfahrungen des letzten europäischen Krieges versagt. Splitterbomben, die wieder nur Unbewaffnete und Ungeschützte treffen und gezielt gegen sie eingesetzt werden, wirken verheerender als die Dumdum-Geschosse, die von allen zivilisierten Nationen geächtet sind. Und bei der Zielsicherheit, auf die sich die amerikanischen Militärs so viel zugute halten, sind Treffer auf Schulen und Krankenhäuser auch keine Zufälle mehr.